Wie wurde 1945 gepredigt?
Zum 80. Jahrestag des Kriegsendes haben wir zusammen mit der Münchener Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte schriftlich hinterlegte Predigten von 1945 herausgesucht. Wir wollten wissen, wie haben die Pfarrer Gottes Wort unter apokalyptischen Umständen verkündigt, als vor ihnen Kriegsversehrte, -witwen und -waisen saßen, Ausgebombte, Vertriebene, Gewaltopfer, aus Lagern und Gefangenschaft Entlassene. Verarmte, Hungernde, Wütende, Schuldbewusste. Wie fängt man diese Stimmungen auf, wie spricht man Scham und Schuld an, ohne sie zu verharmlosen, und wie spendet man Trost? Die eindrucksvollsten Passagen aus sechs ausgewählten Predigten haben wir Ihnen hier zusammengestellt. Da, wo die Urheberrechte es erlauben, sind die vollständigen Texte verlinkt.

Friedrich Wilhelm Hopf
Sonntag Rogate, 6. Mai 1945
Evangelisch-Lutherische Pfarrkirche zu Mühlhausen (Oberfranken)
»Hinter uns liegt ein Zeitraum der Menschenvergötterung und Erfolgsanbetung wie nie zuvor in der Geschichte unseres Volkes … Die heiligen 10 Gebote galten nicht mehr als der unverbrüchliche Maßstab des Urteils über Recht und Unrecht, Gut und Böse, Wahrheit und Lüge. Sondern wir hatten auf der einen Seite die frevelhafte Selbstüberhebung derer, die sich hinwegsetzten über alle Ordnungen Gottes, weil ihre Macht sich gründete auf Lüge, Ungerechtigkeit, Mord und den grausamen Missbrauch der obrigkeitlichen Gewalt … Zerbrochen und jämmerlich zu Schaden geworden ist alles, was man uns jahrelang hoch gepriesen hat, als sei es unvergänglich und heilbringend. Zerbrochen und zu Schaden geworden ist all das, wofür so viele Menschen haben leiden und sterben müssen, die Macht, durch welche unsägliches Herzeleid gebracht worden ist zuerst über viele andere Völker und nun über eines eigenes Volk. Zerstörte Städte, Berge von Leichen, Millionen von Gefangenen, Enthüllungen über Verbrechen und Greueltaten von ungeahnter Grausamkeit, Wahnsinn, Verzweiflung, Selbstmord – das ist das Ende, wahrlich ein Ende mit Schrecken!«
»Wir werfen jetzt nicht Steine auf andere, sondern schlagen an die eigene Brust und rufen: o unsere Schuld, unsere Schuld, unsere übergroße Schuld! Denn wir haben oft geschwiegen, wo wir als Kirche Jesu Christi in Deutschland hätten laut reden und deutlich Zeugnis geben müssen: Es ist nicht recht! Wir hätten reden müssen zum Mord an den Blöden in den Heil- und Pflegeanstalten. Wir hätten reden müssen zu dem großen Unrecht an anderen Völkern und zu der unheimlich anwachsenden Menschenvergötterung … Stattdessen ist mal leider mitgelaufen, hat mitgeschrieen und mitgesungen, wo für einen Christen ein ernstes Schweigen das Richtige gewesen wäre. So war’s überall in Deutschland. So war’s auch in Mühlhausen. Denkt ihr noch an den November 1938, wie es damals in unserem Dorfe zuging, an jedem trüben Tag, der für immer ein häßlicher Schandfleck in der Geschichte unserer christlichen Gemeinde bleiben wird? Wißt ihr noch, was man damals unserer Schuljugend angetan hat, als man sie von Haus zu Haus führte dorthin, wo Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit verübt wurden, als man in den Herzen unserer getauften Klinder wirklich mehr zerschlug als die Scherben von Glas und Porzellan von damals? Wer aber hat damals laut und deutlich gesagt: Es ist nicht recht!? Ist nicht das Schweigen in einem solchen Fall auch eine Mitschuld?«
Gerhard Ebeling
21. Mai 1945
Predigt vor der Truppe in Nordschleswig
»In Trümmer gesunken ist ein sehr großer Teil unseres Vaterlandes, dessen Verwüstung weit schlimmer ist als nach dem 30jährigen Krieg … Wir sollten gerade in diesen Tagen erzwungenen Abwartens und Stillehaltens unserer Leben von einer höheren Warte aus ansehen und zu erfassen suchen, daß nicht Menschen die Geschichte machen, sondern daß zuletzt Gott sie lenkt und daß wir auch und gerade in einer Lage wie der unseren ihm begegnen und ihm stillezuhalten haben.«
»Denn der Geist, den Gott gibt, ist ein Geist der Kraft. Es ist zwar eine paradoxe Kraft. Man sieht dem, der sich unter den Geist Gottes stellt, von außen diese Kraft oft gar nicht an … Sie macht fähig, über die Enge des Augenblicks hinauszuwachsen und den Willen Gottes nicht nur zu leiden, sondern zu tun, sich nicht willenlos von den Wellen treiben zu lassen, sondern im Blick auf Gott und seinen Willen ein hohes Ziel ins Auge zu fassen und darauf loszusteuern in sieghaftem Trotz gegen die Mächte der Finsternis, der Zerstörung und der Verzweiflung. In der Kraft dieses Geistes gewinnt das Leben auch in der anscheinend hoffnungslosesten Situation wieder einen Sinn … Die Kraft, für den anderen dazusein, ist größer als die Kraft, nur für sich selber dazusein. Zur Liebe gehört mehr Kraft als zur Ichsucht und zum Hass … Die Welt wird immer eine Welt bleiben, in der Ichsucht und Haß das große Wort führen. Aber das ist wohl möglich und bereits zahllos wirklich geworden: in dieser Welt des Hasses durch die Kraft des Geistes Gottes Inseln wahrer Liebe, wahrer Menschlichkeit und wahren Friedens zu schaffen.«
(Aus Gerhard Ebeling: Predigten eines »Illegalen«. Tübingen 1995)
Hermann Lahusen
Pfingstsonntag, 20. Mai 1945
Esslinger Johanneskirche
»… weil jeder Mensch heutzutage gerne das Wort ›Gott‹ sagt, vergottet er den Menschen und vermenschlicht das Göttliche, macht zum Himmel die Erde und verweltlicht das Himmlische. Wie er das Vergängliche verewigt, zeigte sein Reden von ewigen Deutschland. Eine Hochwelle dieses Geistes der Welt war die unser Volk so hoch hebende und so tief stürzende Bewegung, die sich als hoher Idealismus ausgab, aber hinter diesem schönen Mantel verbarg sich ein nackter Vernunft- und Naturglaube an Rasse, Blut und Boden. Folgerichtig wurde darum ihre Religion ein Sonnenkult, nicht viel anders, als wie ich ihn von den Tempeln Oberägyptens aus einer Zeit vor 4-5000 Jahren ablas. Ihre Zeichen sind das Sonnenrad, die Sonnenwendfeiern und anders mehr. Folgerichtig schob man sachte an Stelle des christlichen Festkalenders einen weltlichen, entgotteten, feierte nicht mehr Gottestaten, sondern Menschentat und Naturleben, so den Staatsfeiertag, Arbeitstag, Erntetag – an dem der Mensch sich selber danket –, Muttertag, Jugendtag.«
Hermann Lahusen
3. Juni 1945
Esslinger Johanneskirche
»Unmöglich, rief der nordische Mensch unserer Tage! Ein jüdischer Retter sollte uns helfen? Schon um die Jahrhundertwende war man eifrig daran, das Märchen von einem arischen Christus zu dichten. Einen artgemäßen Christus wollte man haben. Ein Märchen war’s; denn die Evangelien lassen in Wahrheit gar keinen Zweifel zu: der Jesus von Nazareth ging am Sabbat in die Synagoge, predigte dort aus seiner Bibel, dem Alten Testament, und betete aus dem jüdischen Gesangbuch, dem Psalter, noch am Kreuze; er war gekommen, das Mosaische Gesetz zu erfüllen, feierte zu Jerusalem das Passah und weinte über seine Stadt; er sagte zu dem heidnischen Weibe, er sei nur zu den verlorenen Schafen vom Hause Israel gesandt – welcher arische Arzt würde denn an seine Tür schreiben: Nur für Juden!?«
Johannes Schröder
13. Mai 1945
Rundfunkpredigt im Sender »Freies Deutschland«
»Wieviel Ehen sind zerbrochen, wieviel Familien auseinandergerissen, was hat der Nationalsozialismus aus unserer Jugend gemacht! Und vor allem: die Ehre unseres Volkes ist befleckt durch eine ungeheure Schuld: die Vermessenheit einer unersättlichen Machtpolitik, die Brandruinen planmäßig vernichteter blühender Landstriche, die Asche der in Himmlers Todeslagern grausam Gemordeten, sie klagen uns an! Wir müssen mit unserm ganzen Volk wieder buchstabieren lernen: ›Du sollst nicht töten! – Du sollst nicht stehlen! – Du sollst nicht ehebrechen! – Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!‹«
(Aus Johannes Schröder: Waches Gewissen – Aufruf zum Widerstand. Göttingen 2021. – »Freies Deutschland« war ein deutschsprachiger sowjetischer Propagandasender der antifaschistischen Militärorganisation Nationalkomitee Freies Deutschland, der von 1943 bis 1945 von kriegsgefangenen Soldaten und kommunistischen Emigranten Radiosendungen für Frontsoldaten der Wehrmacht und die Zivilbevölkerung in Deutschland ausstrahlte.)
Landesbischof Theophil Wurm
Himmelfahrt, 10. Mai 1945
Stuttgarter Landestheater
»Aber tief demütigend ist es doch für uns, daß die Anstifter von Gewalttätigkeiten und Grausamkeiten draußen und daheim so viele Helfershelfer gefunden haben und daß eine noch viel größere Zahl über all diese Dinge, die den Tieferblickenden schon lange quälen mußten, hinwegzugleiten verstanden, als ob sie das nichts anginge, was im Namen des deutschen Volkes verübt wurde.«
»Als die Unmöglichkeit, diesen Krieg siegreich zu beenden, für jeden nüchtern denkenden Menschen deutlich war, machte man sich nicht los von einem geradezu aberwitzigen Vertrauen auf Personen, auf Erfindungen, auf irgendwelche menschlichen Schachzüge und warf dem Moloch des Krieges immer neue Opfer an Menschen und an Gütern in den Rachen. Ja, es wurden die Verheißungen, die in der Heiligen Schrift dem Glauben an Gott und Gotteswort gegeben sind, in einer oft fast lästerlichen Weise auf den Glauben an das Menschenwort übertragen.«
»Wir wollen also nicht von Gott Rechenschaft fordern, warum er so Furchtbares hat geschehen lassen, sondern wir wollen in der Abkehr von ihm und von seinen Lebensordnungen die tiefste Ursache unseres Elendes erblicken. Darum muss unsere Losung sein: ›Zurück zu Christus und zurück zum Bruder.‹ In dieser Losung wollen wir uns zusammenfinden! Gott, der Herr, segne alle, die diesen Weg gehen wollen!«
Heinrich Rendtorff
für Wilhelm Halfmanns „Wort zum Bußtag“ 1945
an die Gemeinden in Schleswig-Holstein
»Wir haben nicht widerstanden bis aufs Blut, wir haben nicht gerufen, geworben, gewarnt mit letztem Einsatz. Es hat uns gefehlt an der ganzen Liebe, mit der unser Herr uns geliebt hat, an dem ganzen Glauben, der ihm alles zutraute, an dem ganzen Gehorsam, der nur nach seinem Befehl fragte, nach nichts anderem. Darum sind wir schuldig vor Gott an dem Furchtbaren, das geschehen ist, an dem Jammer, der über unser Volk hereingebrochen ist. Herr, erbarme dich unser!«