Wie ein Requiem über den Schlachtfeldern dieser Welt

In schockierenden Zeiten wie diesen kann es hilfreich sein, wenn wir unsere Gefühle und Gedanken in anderen Ausdrucksformen wiederfinden. Andachten und Gottesdienste sind ein solches Angebot – es kann aber auch die Oper sein. Horst Gorski, ehemaliger Amtsbereichsleiter der VELKD, berichtet von einem nachhaltigen Opernbesuch in Berlin.

Eine Opernbühne, weißer Hintergrund. Auf der Bühne stehen viele Personen in weißer Kleidung und halten mit beiden Händen Gewehre hoch. Im Vordergrund kniet ein Mann mit blutbeflecktem Hemd; hinter ihm steht ein Mann und würgt ihn.

Gekommen war ich wegen Elīna Garanča. Ich wollte sie als Amneris hören. Verdis „Aida“, dieses pompöse Repräsentationsstück mit Triumphmarsch, gehört nicht zu meinen Lieblingsopern. 1871 in Kairo uraufgeführt (nein, zur Eröffnung des Suezkanals 1869 war „Rigoletto“ gespielt worden). Am 3. Oktober hatte die neue Inszenierung des für seine Provokationen bekannten katalanischen Regisseurs Calixto Bieito an der Staatsoper „Unter den Linden“ in Berlin Premiere. Das Publikum hatte ihn wütend ausgebuht, die Kritiken überschlugen sich mit Häme. Der „tagesspiegel“ schrieb gar von „Rotwein-Scheiße“, mit anderen Worten: Da könnten Pseudo-Intellektuelle sich klug vorkommen. So war ich hinreichend neugierig. Doppelter Einspruch: Einspruch meinerseits gegen die Kritik und ein Einspruch der Inszenierung gegen Krieg und Gewalt.

Der ägyptische Feldherr Radames (Yusif Eyvazov) liebt die äthiopische Königstochter Aida (Marina Rebeka), die in Ägypten als Sklavin gefangen gehalten wird. Die Tochter des ägyptischen Königs Amneris wird vor Eifersucht auf Aida schier verrückt. Radames verrät aus Liebe zu Aida ein Kriegsgeheimnis und wird zur Strafe lebendig eingemauert. Das ungefähr ist der Plot. Die Oper beginnt mit einer der berühmtesten Tenor-Arien „Celeste Aida“, einem Bravourstück von Caruso bis Pavarotti. Bieito lässt Radames während der Arie eine Soldatenuniform anziehen, mit einem Revolver spielen und beim hohen „B“ ins Publikum zielen. Das gefällt offenbar nicht jedem. Dabei war es völlig schlüssig: Ein junger Mann, der gar nicht weiß, was Krieg bedeutet, träumt selbstverliebt von Ruhm, mit dem er seiner Geliebten imponieren könnte. Absurderweise geht es um einen Krieg gegen ihr Volk. Wie er sie damit glücklich machen könnte, bleibt im Original unklar.

Bieito macht Radames zur Schlüsselfigur seiner Inszenierung. Denn dieser junge Träumer kehrt körperlich und seelisch verletzt aus dem siegreichen Feldzug zurück. Während des Triumphmarsches kauert er verängstigt am Boden. Er ist so panisch traumatisiert, dass er bei geringfügigen Bewegungen der Gefangenen sofort schießt. Die beiden Frauen, die ihn lieben, können ihn mehrfach nur knapp davon abhalten, sich selbst eine Kugel in den Kopf zu jagen. Natürlich ist es irritierend, wenn dies mitten in einem Liebesduett passiert. Ich fand es jedoch vollkommen logisch: Der traumatisierte Kriegsheimkehrer scheitert daran, sein Leben von vorher weiterzuführen. Er kann nicht mehr „angemessen normal“ reagieren. Der aserbeidschanische Tenor Yusif Eyvazov (nebenbei: Ehemann von Anna Netrebko) sang zwar mit etwas harter und dauer-forcierter Stimme, spielte den seelisch gebrochenen Soldaten aber mit eindringlicher Kraft.  

Calixto überblendet manche Szenen mit Video-Einspielungen. So ist zum Triumphmarsch eine Großwildjagd zu sehen. Vorne an der Rampe sortieren verwahrloste Kinder Elektroschrott. Aus dem Tanz der „Mohrensklaven“ macht er einen Tanz der Konsum-Sklavinnen mit Einkaufstaschen und Video-Einspielungen aus einem Supermarkt. Clown-Figuren begleiten die Szenen mit wehmütigen Gesten. Obwohl bei der dritten Aufführung kein Regisseur mehr auf die Bühne kommt, ließ das Publikum es sich nicht nehmen, in einige Szenen „Buh“ zu brüllen und die Clowns am Ende stellvertretend für die Regie abzustrafen.

War das nun ein verunglücktes Sammelsurium von Regie-Einfällen für den Rotwein Genuss? Für mich war es ein berührendes Kammerspiel der Akteur:innen, die sich, von einer intensiven Personenregie geführt, all ihre Liebe, Schmerz und Verzweiflung aus dem Leibe sangen. Wie Amneris die Priester verflucht, die Radames zum Tode verurteilen, ließ Elīna Garanča mit ihrem burgunderfarbenen Timbre und der Intensität ihrer Präsenz beweisen, warum sie derzeit als eine der besten Mezzosopranistinnen der Welt gehandelt wird. Aber auch Marina Rebeka als Aida gelangen berührende Momente.

Die vielen Regie-Einfälle und Überblendungen sind sicher nicht alle logisch auf die Handlung zu beziehen. Ich habe sie als Kommentar zur Rezeptionsgeschichte der Oper verstanden. Denn kaum eine andere Oper ist politisch und kulturell so vereinnahm und missbraucht worden. Schon der Auftraggeber, der osmanische Vizekönig von Ägypten, Ismail Pascha wollte Kairo zum „Paris des Orients“ stilisieren und holte dafür mit ruinösen Geldsummen klassische Kultur nach Kairo. Als Italien gegen Abessinien (Äthiopien) einen blutigen Kolonialkrieg führte, wurde „Aida“ zur Nationaloper. Dass ein Herold darin von den „barbarischen Äthiopiern“ singt, wurde einfach für bare Münze genommen und politisch ausgeschlachtet. Der Triumphmarsch erklingt bis heute in Fußballstadien, bot den musikalischen Hintergrund für Mussolinis Auftritte, und selbst Konrad Adenauer ließ ihn bei seinem Einzug auf dem Bundesparteitag der CDU 1953 spielen und stellte sich dann mit einem Versprecher als „Reichskanzler“ vor. Hatte ihn die Musik zu diesem Versprecher verleitet? Ob Verdi Ägypter und Äthiopier als Gute und Böse stilisieren wollte, ist völlig offen. Interessant ist ein Brief an seinen Librettisten, dem er empfiehlt, für die Worte der Priester beim Triumph sich an dem Stil der Telegramme des Preußenkönigs Wilhelm zu orientieren. Bekanntlich war Verdi der preußische Militarismus verhasst.

„Aida“ ist eine Oper mit kolonialistischen Klischees, die aber in kein Muster passt. Vereinnahmt und missbraucht für alles Mögliche. Diese Rezeptionsgeschichte führt Bieito dem Publikum vor Augen. Bieito bietet mit seinen Bildkollagen Assoziationen an, die offen bleiben. Ich konnte meine eigenen Bilder in Gedanken ergänzen, aus der Ukraine, jetzt aus Israel und von so vielen Kriegsschauplätzen überall. Ihm gelingt mit der Figur des traumatisierten Soldaten ein Einspruch gegen jede Verherrlichung von Krieg und Gewalt. Wenn Amneris am Ende mehrmals ihr stilles „Pace, pace“ singt, klingt es wie ein Requiem über den Schlachtfeldern dieser Welt.

Neben mir saß eine Lettin, wie sich herausstellte. Sie war gekommen um ihre beiden Landsfrauen, Marina Rebeka und Elīna Garanča zu hören. Sie fragte mich, wen ich besser fände.  Ich zuckte zusammen und offenbarte ihr meinen Fanstatus. Ihr gefiele Marina Rebeka doch etwas besser meinte sie. Nicht jeden Einspruch hört man gern.

Horst Gorski