Was ist der Mensch?

Was zeichnet uns als Menschen noch aus, wenn immer mehr unserer kognitiven Fähigkeiten auch von künstlichen neuronalen Netzen übernommen werden können?

Ein Kirchenfenster mit weißen, goldenen und blauen Elementen. Davor steht ein Kreuz.

Nein, dieser Text ist nicht von ChatGPT geschrieben. In Zeiten, in denen eine Gratis-App auf dem Smartphone in Sekundenschnelle Gebete, Predigten und sogar ganze Evangelien über Jesus Christus entwirft, muss man das wohl dazusagen. Es geht aber um einen Aspekt, den die hohe Qualität vieler Textvorschläge dieses KI-Dialogsystems in bisher nicht gekannter Dringlichkeit aufwirft: Was zeichnet uns als Menschen noch aus, wenn immer mehr unserer kognitiven Fähigkeiten auch von künstlichen neuronalen Netzen übernommen werden können? Die alte Definition des Aristoteles vom Menschen als »vernunftbegabtem Lebewesen« (»animal rationale«) scheint über kurz oder lang ausgedient zu haben. Doch interessanterweise lässt der jüngste technische Entwicklungssprung gerade die fünf menschlichen Eigenheiten deutlich zutage treten, die in der christlichen Tradition schon immer eine wichtige Rolle gespielt haben.

Da ist zum Ersten das Geheimnis des Lebens an sich, das wir mit allen Geschöpfen teilen. An Rechenleistung übertreffen moderne Computer schon jetzt das Gehirn einer Stubenfliege bei Weitem. Und dennoch ist die Fliege ein Wunderwerk, das als Ganzes nie kopiert werden kann. Das Leben als solches ist bei allen Fortschritten der Reproduktionsmedizin noch immer unerforscht, vielleicht sogar prinzipiell unerforschbar. Für uns als Geschöpfe folgt daraus die Gewissheit, Bestandteil eines großen Sinnzusammenhangs zu sein. In dieser Weise über sich selbst hinauszudenken und sich zugleich in diesem neuen Zusammenhang selbst zu sehen, wird einem Computer nie gelingen.

Der zweite große Unterschied ist unsere Fähigkeit zu lieben und darüber bewusst zu reflektieren: Nichts ist im Leben wichtiger als die Liebe. Sie steuert unser emotionales Gedächtnis und speist unsere Motivation, dass wir uns für eine glückliche und friedliche Welt einsetzen. Wir können einem Computer alle Codes des Verliebtseins und der Liebe beibringen, vielleicht werden künftige Avatare bei Komplimenten rot werden, verlegen sprechen, aber sie werden nie diese Auflösung von Ich und Du in einen Algorithmus umwandeln können.

Drittens: unsere Fähigkeit, sich funktionalen Zusammenhängen zu entziehen und so etwas wie Langeweile, Muße, Meditation zu üben. Diese bewusste Verweigerung einer Zweckerfüllung ist die Voraussetzung für Spiritualität, die auf Effizienz programmierten Maschinen immer fremd bleiben wird.

Zum Vierten sind Menschen sich ihrer eigenen Vergänglichkeit bewusst, verorten sich also immer schon in übergeordneten Zusammenhängen wie »zeitlich/ewig« oder »bedingt/absolut«. Das Bewusstsein, dass unsere Existenz vergänglich ist, bringt die Dramatik in unser Leben und die Beziehungen, die wir pflegen. Ein Computer wird in seiner Strategie nicht dadurch verändert, dass wir ihm androhen, bald den Stecker zu ziehen.

Der fünfte große Unterschied schließlich liegt in unserer Fähigkeit zu scheitern – und trotzdem weiterzumachen. Es ist gerade das Kennzeichen menschlicher Existenz, dass wir fehleranfällig sind. Und das hängt mit unserer Vergänglichkeit zusammen. Es war evolutionär ein Vorteil, schnell neue Hypothesen zu bilden, anstatt die alten komplett durchzurechnen. Auch wenn wir viele unserer Annahmen über das Leben, die Anderen und uns selbst immer wieder korrigieren müssen, so sind wir doch Meister darin, ständig neue Theorien auszuprobieren – und daran zu scheitern. Ein Tier kann, mit Hegel gesprochen, „an sich“ scheitern, aber nicht „für sich“. Es hat kein theoriegeleitetes Problembewusstsein dazu. Ein Computer dagegen kann überhaupt nicht scheitern, sein Programm kann allenfalls wertlos werden. Computer sind programmatisch vollkommen. Wir dagegen können von einem auf den anderen Tag unseren Lebensentwurf ändern und unser Selbst neu bestimmen.

Im christlichen Bild von Kreuz und Auferstehung wird diese Chance besonders deutlich. Wir dürfen uns auch dann als gelungene Kreaturen verstehen, wenn wir Fehler machen, unseren eigenen oder anderen Ansprüchen nicht gerecht werden. Denn wir werden, im Gegensatz zu Maschinen, nicht daran gemessen, wie gut wir etwas tun. Wert und Würde des Menschen sind unabhängig von seinen Leistungen. Martin Luthers alte Formel aus der Römerbrief-Vorlesung, der Mensch sei gerecht und Sünder zugleich, hat dies schon vor über 500 Jahren auf den Punkt gebracht. Doch so aktuell wie heute war sie noch nie.

Schöpfung, Liebe, Spiritualität, Endlichkeit und das ständige Leben zwischen Scheitern und Hoffnung, zwischen Karfreitag und Ostern – das sind die Elemente einer neuen Sicht auf den Menschen. Sie entspricht sehr genau dem, was das Christentum seit Jahrhunderten ausmacht.

OKR Dr. Dr. Frank Hofmann