Über Losung und Lehrtext

Umgekehrt wird ein Schuh draus

In ein paar Wochen wird eine beispiellose publizistische Erfolgsgeschichte 295 Jahre alt. Die Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine sind das am weitesten verbreitete Andachtsbuch der Welt. Es wird in über 60 Sprachen übersetzt, in mehr als 100 Ländern gelesen und erreicht allein in Deutschland eine Millionenauflage. Die missionarischen Verdienste dieses Projekts, das den Reichtum der Bibel täglich lebendig werden lässt, ist gar nicht zu überschätzen. Braille-, Großdruck- und Ausgaben in Einfacher Sprache erreichen die Menschen nahezu barrierefrei, die Ursprachenversion dient nicht wenigen Theologinnen und Theologen zur Auffrischung ihrer Kenntnisse in Hebräisch und Altgriechisch. 

Alles gut, also? Nicht ganz.

In der aktuellen Ausgabe des evangelischen Debattenmagazins „zeitzeichen“ wirft der Journalist und promovierte Theologe Sebastian Engelbrecht den Losungen vor, dass sie „eingeübte judenfeindliche Motive“ reproduzierten. Die Gegenüberstellung von alttestamentlicher Losung – zufällig gewählt aus 1824 Versen – und dem gezielt dazu herausgesuchten neutestamentlichen Lehrtext folge allzu oft dem Schema: „Der Gott des Alten Testaments richtet, Gottes Sohn aber rettet.“ Dies sei das „Muster einer antijüdischen Theologie aus Substitution, Antithese und Überbietung“ durch das Neue Testament, das möglicherweise „unbewusst“ oder „aus einem Mangel an Sensibilität“ entstanden sei, letztlich aber wie „eine Dosis antijüdischen Gifts“ wirke.

Das ist harter Tobak, der noch schwerer genießbar wird durch die Tatsache, dass sich Joseph Goebbels in den Kriegsjahren 1943 bis 1945 trotz knappster Druckkapazitäten persönlich für das Erscheinen der Losungen einsetzte. Zweifellos, man kann die Verspaare aus einer Perspektive christlichen Überlegenheitsgefühls lesen. Ein besonders drastisches Beispiel ist der Lehrtext zum Israelsonntag 2022 (Apostelgeschichte 8,36), in dem Philippus den Kämmerer tauft, der eigens nach Jerusalem reiste, um Gott anzubeten, als Eunuch aber von den Juden abgewiesen worden war. Diese Auswahl ist zumindest instinktlos.

Allerdings stellt sich für das Dual Losung/Lehrtext doch die Frage, welcher der beiden Verse als überbietende Ergänzung zu verstehen ist. Wer wie einst Martin Luther Angst vor einem strafenden Gott hat, wird die neutestamentlichen Zuspruchstexte wie einen tröstenden Balsam aufsaugen. Aber gilt das auch für Christinnen und Christen in einer säkularisierten Gesellschaft, die angesichts von Krieg und Leid in eine ganz andere Rechtfertigungsnot kommen? „Wie könnt ihr noch von einer Heilsgeschichte sprechen, wenn die Welt den Bach runtergeht?“ Fehlt uns nicht das Bewusstsein für Luthers Deus absconditus, den verborgenen Gott, den wir nie verstehen werden, der uns aber dann tröstet, wenn alle unsere Sinngebungsversuche versagen? „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken“ (Jesaja 55,8) kann ein größerer Zuspruch sein als „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder sein“ (Matthäus 5,8).

Diese Sätze, die gar nicht den missverständlichen Eindruck einer schnellen himmlischen Eingreiftruppe aufkommen lassen, aber uns in einer gefühlten Sinnlosigkeit entlastend an die Hand nehmen, sind die verborgenen Perlen des Alten Testaments. „Wer da meint, alles besser zu wissen, sollte der mit dem Allmächtigen richten?“, fragt ein erzürnter Gott den klagenden Hiob (40,29). Im Neuen Testament finden sich Verse dieser Art seltener, am ehesten noch in der Passionsgeschichte: „Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“ (Markus 15,34). Und das ist ein Zitat aus Psalm 22.

Martin Luther hat diese Ambivalenz von Bibeltexten sehr gut auf den Punkt gebracht, wenn er schrieb: Gesetz und Evangelium recht zu unterscheiden, das vermag nur der Heilige Geist. Mit anderen Worten: Es kommt immer auf die Situation und die Perspektive der Lesenden an.

Wie wäre es, wenn das System der Losungen einfach mal umgedreht würde: die Losung aus dem Neuen, der Lehrtext aus dem Alten Testament?

OKR Dr. Dr. Frank Hofmann