Das Leiden der anderen

Darf man sich über einen Kanzler mit temporärer Augenklappe lustig machen? Oder verletzt man damit womöglich diejenigen, die dauerhaft damit leben müssen?

Gemälde von Martin Luther. Auf sein rechtes Auge wurde eine Augenklappe montiert. Darüber sind in Weiß ein Ausrufezeichen und ein Fragezeichen platziert.

„Wer den Schaden hat …“ schrieb Bundeskanzler Olaf Scholz am vergangenen Montag und postete dazu ein Bild von sich selbst mit Augenklappe. Nach einem Unfall wollte er proaktiv die Öffentlichkeit darauf vorbereiten, dass er in nächster Zeit maskiert auftreten wird – was auch bspw. am Folgetag im Bundestag geschah. Gleichzeitig schrieb er aber auch, er sei gespannt auf die Memes – die natürlich prompt folgten.

Als Meme werden in den Sozialen Netzwerken kreative, meist humoristische und satirische Inhalte bezeichnet. Sie finden in vielen Fällen Anwendung und verbreiten sich häufig wie von selbst. Die Reichweite, eine der relevanten Messgrößen im Marketing, kann da schon mal sehr hoch sein.

Dass der Bundeskanzler quasi automatisch davon ausging, dass sich sein Foto verselbstständigen wird, zeigt erst einmal nur, dass er (oder seine Pressestelle) verstanden haben, was mit ungewöhnlichen Bildern passieren kann. Und natürlich griffen unzählige Medien, Marken und Menschen die Steilvorlage auf.

Manche zielten auf die Position des Bundeskanzlers ab, wie zum Beispiel die Piraten-Partei, die begeistert „Wir sind Kanzler!“ schrieb. Andere bezogen sich auf inhaltliche Themen: Greenpeace montierte eine weitere Augenklappe ins Foto, so dass beide Augen verdeckt waren und wollte damit darauf aufmerksam machen, dass Scholz bei der Klimakrise wegschaue. Das ZDF griff seinen eigenen Werbeslogan „Mit dem Zweiten sieht man besser“ auf, der RBB suggerierte eine Schlägerei mit dem Koalitionspartner („Ihr solltet mal die FDP sehen.“). Und auch wir bei der VELKD sprangen auf den fahrenden Zug der unterhaltsamen Beiträge auf und posteten ein Bild von Martin Luther mit Augenklappe sowie dem Spruch „Wenn man beim Thesenanschlag mit dem Hammer zu weit ausholt …“.

Reichweite auf Kosten anderer?

Eines hatten die allermeisten der Augenklappen-Beiträge gemein: Sie waren humorvoll gemeint, ein augenzwinkerndes Etwas im großen weiten Internet. Und wer im Internet Humor zeigt, womöglich auch über sich selbst lachen kann, sammelt Pluspunkte auf der Sympathie-Skala. So wird es der Bundeskanzler vermutlich gemeint haben und so sahen es auch viele andere Nutzer.

Natürlich ging es bei vielen aber auch darum, eine gewisse Reichweite zu generieren, denn wer Soziale Medien beruflich nutzt, will damit auch etwas erreichen. Das war auch einer der Gedanken, die wir bei der Erstellung unseres Beitrags hatten: Reichweite generieren und somit mehr Menschen für unsere eigentlichen Themen gewinnen.

Selbstkritisch müssen wir im Rückblick zugeben, dass unser Vorgehen in Teilen gedankenlos war. Denn wie so oft bei Humor ist es auch hier: Wenn viele lachen, leiden andere. Humor verletzt leider sehr häufig eine Minderheit – sei es aufgrund ihrer Herkunft, ihres Berufes, ihrer Religion, ihres Aussehens oder aber auch ihrer persönlichen Geschichte.

Augenklappen gehören nicht nur zur Grundausstattung jedes Piraten-Kostüms, sondern werden auch von vielen Menschen genutzt, die eine Beeinträchtigung an ihren Augen haben. Sei es dauerhaft oder aber wie bei Olaf Scholz aufgrund einer temporären Verletzung, bei der das Auge und/oder der Bereich rund um das Auge beim Heilungsprozess geschützt werden soll. Daran ist objektiv betrachtet nichts lustig.

„Verletzende Realität und Ausgrenzungserfahrung“

Die Göttinger Pastorin Christina Ernst ist seit ihrem vierten Lebensjahr vollständig erblindet und trägt seit einer Tumor-Operation eine Augenklappe. Auf Instagram (@christina.auf.der.spur) äußerte sie sich kritisch – sowohl zum Beitrag des Bundeskanzlers, als auch zu dem, was daraus dann entstand: „Es braucht Mut, ein Gesicht zu zeigen, in dem das Leben deutliche Spuren hinterlassen hat. Es braucht Kraft und Selbstbewusstsein, dumme Sprüche oder unverschämtes Starren an sich abprallen zu lassen. Viele Menschen ziehen sich nach einer Gesichtsverletzung zurück - gehen nicht mehr zum Eis Essen mit Freunden, trauen sich nirgendwo hin, weil sie das Anstarren nicht ertragen oder das verschämte Weggucken, weil sie erleben, dass Menschen auf Abstand gehen. Für viele Menschen sind blöde Sprüche über Piraten, Papageien oder eine wilde Schlägerei kein witziges Meme zur eigenen Image-Pflege, sondern verletzende Realität und Ausgrenzungserfahrung.“ Nicht nur der Bundeskanzler trage eine Augenklappe. „Viele Menschen tragen Augenklappe: Kinder, die ein schwaches Auge trainieren müssen, Menschen mit einer Gesichtsverletzung durch Unfall oder nach einer Tumor-Operation. So wie ich. Nach meiner Tumor-Op vor drei Jahren war für mich klar: Ich gehe sofort raus auf die Straße, zum Bäcker, unter Menschen. Denn ich will erst gar nicht damit anfangen, mich dafür zu schämen, dass mein Gesicht anders aussieht.“

Ich schreibe sie einen Tag nach unserem und ihrem Post zu dem Thema an und wir kommen ins Gespräch. „Ich habe grundsätzlich gar nichts dagegen“, sagt sie, „auch mal einen Spruch zu machen über eine Augenklappe oder so. Mein Gefühl ist nur, dass viele Menschen wegen des Bundeskanzlers sich jetzt noch ein paar Sprüche mehr anhören müssen und nicht jeder verkraftet das gut und selbstbewusst.“ Das Gesicht sei ein so zentraler Bestandteil der persönlichen Identität und gerade hier hätte man keine Chance, etwas durch Kleidung zu verdecken.

Wir dürfen unterschiedlich sein

„Ich finde, man kann den Kanzler jetzt ja wirklich dazu nutzen, zu sagen: ‚Es ist doch nicht schlimm, wenn wir unterschiedlich aussehen.‘ Gesichter dürfen unterschiedlich sein, auch mit krummen Nasen und schiefem Mund (Stichwort: Schlaganfall).“ Dennoch ist auch sie der Ansicht, dass man nicht immer politisch korrekt sein kann, sondern auch mal spontan sein muss. Umso wichtiger sei es, verschiedene Perspektiven miteinander im Gespräch zu haben.

Gott hat uns alle unterschiedlich geschaffen und das ist gut so. Denn in der Vielfalt liegt auch eine immense Stärke unseres Zusammenlebens auf diesem Planeten: Wir ergänzen und helfen uns, wenn jemand mal etwas nicht so gut kann, wie andere – sei es temporär oder dauerhaft. Darüber respektvoll (und manchmal auch mit ein wenig Humor) zu sprechen, kann und wird uns alle nur noch stärker machen.

Sebastian Stein