"Die lutherische Kirche muss sich auf ihren Markenkern besinnen"

Interview mit der Kirchenhistorikerin Dr. Nora Andrea Schulze von der Forschungsstelle der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte in München über die Gründung der VELKD vor 75 Jahren und ihre Zukunftsperspektiven.

Warum hat es bis 1948 gedauert, bis sich eine landesweite lutherische Kirche in Deutschland gründete? Hätte das nicht schon 80 Jahre vorher, auf der ersten AELK in Hannover passieren können?

Als die Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz 1868 zum ersten Mal tagte, lag der Zusammenschluss der lutherischen Landeskirchen zu einer einheitlichen, deutschlandweiten lutherischen Kirche noch weit jenseits des Horizonts. Die Konferenz sollte zwar zur Gemeinschaft und Verständigung der lutherischen Landeskirchen untereinander beitragen und war ein Signal für das Wiedererwachen des konfessionellen Bewusstseins der Lutheraner, sie hatte aber weder die Absicht noch die Möglichkeit, eine vereinte lutherische Kirche zu schaffen. Anlass für die Konferenz war vielmehr die Annexion lutherischer Territorien durch Preußen. Das weckte Befürchtungen, diese Territorien würden der preußischen Unionskirche zugeschlagen, in der der preußische König 1817 Lutheraner und Reformierte zu einer Kirche vereint hatte. Die Gründung der preußischen Union hatte bei vielen Lutheranern, die ihre konfessionelle Identität ausgelöscht sahen, ein regelrechtes Trauma verursacht. Dieses Trauma wurde jetzt wieder virulent und gab der Konferenz ein antiunionistisches Gepräge. Dass der preußische König gegen den Willen vieler Lutheraner die kirchliche Union installieren konnte, macht allerdings auch deutlich, warum den lutherischen Landeskirchen die Gründung einer deutschlandweiten lutherischen Kirche im 19. Jahrhundert in jedem Fall unmöglich gewesen wäre: Die Landeskirchen waren ja nicht selbstständig, sondern die kirchliche Oberhoheit und damit die letzte Entscheidungsgewalt lag bei den jeweiligen Landesherren; diese hätten die Leitung der Kirchen in ihren Herrschaftsgebieten niemals an eine überterritoriale Kirchenleitung abgetreten.

Freie Hand hätten die Landeskirchen erst ab 1918 gehabt, als das Landesherrliche Kirchenregiment am Ende des Ersten Weltkriegs fiel und die Kirchen erstmals seit der Reformationszeit ihre Selbstständigkeit erhielten. Jetzt galt es allerdings andere Fragen zu lösen als eine vereinte lutherische Kirche Deutschlands zu schaffen: Lutherische, reformierte und unierte Landeskirchen mussten sich gleichermaßen selbst neu ordnen, ihr Verhältnis zu den Ländern regeln und eine gemeinsame Vertretung gegenüber dem Reich schaffen, was 1922 mit der Gründung des interkonfessionellen Deutschen Evangelischen Kirchenbunds geschah. Zudem hatten die Kirchen immense Schwierigkeiten damit, nach Jahrhunderten des Staatskirchentums plötzlich in einen religiös neutralen Staat hineingeworfen zu sein und sich in ein Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie und säkularen Kultur der Weimarer Republik zu setzen. Aber auch das Luthertum selbst hatte sich in eine Richtung entwickelt, die die Gründung einer einheitlichen lutherischen Kirche Deutschlands nicht als Gebot der Stunde erscheinen ließ: Die Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz nannte sich jetzt zwar Lutherisches Einigungswerk, die Einigungsbemühungen beschränkten sich aber keineswegs auf die deutschen lutherischen Landeskirchen und deren organisatorische Zusammenfassung. Vielmehr hatte die Konferenz schon seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine internationale Ausrichtung, besaß Mitglieder aus skandinavischen Ländern und tagte mehrfach im Ausland. Besonders ihr langjähriger Vorsitzender Ludwig Ihmels, der bis 1933 amtierte, stand nicht für konfessionelle Engstirnigkeit und organisatorische Abgrenzung der deutschen lutherischen Landeskirchen von Kirchen anderer Konfessionen und Länder, sondern für Weltoffenheit und Liberalität.

Angeführt vom lutherisch-konfessionell eingestellten bayerischen Landesbischof Hans Meiser erhielten die lutherischen Einigungsbestrebungen 1933 dann zwar neuen Auftrieb, unter den Bedingungen des NS-Regimes war die Gründung einer vereinigten lutherischen Kirche Deutschlands bis 1945 aber zu keinem Zeitpunkt möglich. Stattdessen erfolgte im Juli 1933 unter dem Druck der NS-Politik und der NS-hörigen Deutschen Christen der Zusammenschluss aller Landeskirchen zur Vorgängerorganisation der EKD, der konfessionell gemischten Deutschen Evangelischen Kirche, da Hitler kein Verständnis für den in 28 Landeskirchen zersplitterten deutschen Protestantismus hatte und einen einheitlichen Ansprechpartner erwartete. Schon bald darauf setzte der sogenannte Kirchenkampf ein, der es zwingend erforderlich machte, dass bekenntnistreue Lutheraner, Reformierte und Unierte in der Bekennenden Kirche zusammenarbeiteten, um gemeinsam gegen die Irrlehren der Deutschen Christen, die gewaltsame Gleichschaltungspolitik der deutschchristlich geleiteten Deutschen Evangelischen Kirche und die zunehmend kirchenfeindliche Politik des NS-Regimes zu kämpfen. Im weiteren Verlauf der NS-Herrschaft kam es dann zwar noch zu verschiedenen lutherischen Zusammenschlüssen, vor allem zur Gründung der unmittelbaren Vorgängerorganisation der VELKD, des sogenannten Lutherrats, der NS-Staat behinderte die Arbeit des Lutherrats aber von Anfang an und erklärte ihn schließlich für illegal. Unter diesen Umständen mussten die Pläne zur Gründung einer vereinten lutherischen Kirche Deutschlands in der Schublade verschwinden, und die lutherische Vereinigung blieb weiter ein unrealisierbarer Wunschtraum.

Auf der ersten Nachkriegssitzung des Lutherrats im Sommer 1945 sah Meiser dann die Stunde der Lutheraner gekommen und hätte am liebsten sofort die vereinte lutherische Kirche Deutschlands ausgerufen. Dies scheiterte jedoch an der württembergischen Landeskirche, die gegen Meisers Plan votierte und der Neuordnung des deutschen Gesamtprotestantismus in der EKD den Vorrang gab. Zwar war auch denjenigen Lutheranern, die die lutherische Vereinigung am liebsten schon gestern verwirklicht gesehen hätten, vollkommen bewusst, dass der heillose Scherbenhaufen, den die NS-Herrschaft im deutschen Gesamtprotestantismus hinterlassen hatte, aufgeräumt werden musste; darüber hinaus bestritten auch sie nicht, dass die in der Bekennenden Kirche gewachsene Gemeinschaft von Lutheranern, Reformierten und Unierten jetzt nicht einfach wieder über Bord geworfen werden konnte. Das Verhältnis der konfessionell denkenden Lutheraner zur entstehenden EKD war allerdings von denselben Befürchtungen bestimmt wie schon zuvor gegenüber der Bekennenden Kirche: Sie setzten alles daran, dass aus der EKD keine Unionskirche wurde und verhielten sich ihr gegenüber immer wieder wie ein Bremsklotz. Deshalb wurden sie von denjenigen, die den Zusammenschluss zur EKD für das einzige wichtige Gebot der Stunde hielten, als unzeitgemäßer, konfessionell engstirniger Spaltpilz wahrgenommen. Nach dreijährigen zähen Auseinandersetzungen über die konfessionelle Frage gelang es den Lutheranern acht Jahrzehnte nach der ersten Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Konferenz am Ende, dass die Verfassung der VELKD im Juli 1948 mit ein paar Tagen Vorsprung vor der Grundordnung der EKD angenommen wurde - und zwar ohne damit den deutschen Gesamtprotestantismus zu spalten.

Welche theologischen Impulse hielten den Wunsch nach einer vereinigten lutherischen Kirche wach?

Im 19. Jahrhundert war es besonders das sogenannte Neuluthertum, das zum Wiedererwachen eines lutherisch-konfessionellen Selbstbewusstseins und zum entstehenden Gedanken einer vereinten lutherischen Kirche Deutschlands beitrug. Im Gegensatz zu den an der menschlichen Rationalität und Subjektivität orientierten Strömungen in der sogenannten modernen Theologie fand bei den Neulutheranern eine Rückbesinnung auf die Heilige Schrift und die lutherischen Bekenntnisse der Reformationszeit statt, also auf historische Urkunden und vermeintlich objektive Heilstatsachen. Folgenreich wirkte sich dabei auch ein neuer Bekenntnisbegriff aus, nach dem eine Kirche nur dann eine wirkliche Kirche sein sollte, wenn sie ein gemeinsames, einheitliches Bekenntnis besaß. Dies war zwischen Lutheranern und Reformierten nicht der Fall, weshalb für konfessionell denkende Lutheraner eine Kirchengemeinschaft der beiden protestantischen Konfessionen auch nicht denkbar war. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts waren es dann besonders die von Karl Holl eingeleitete Lutherrenaissance und das Jungluthertum von Paul Althaus und Emmanuel Hirsch, die dem Luthertum neue theologische Impulse gaben und indirekt den Gedanken einer vereinten lutherischen Kirche nährten. Wie schon mehrfach angedeutet, gab es allerdings auch ein starkes negatives Moment, das die Selbstfindung des deutschen Luthertums vom 19. bis weit ins 20. Jahrhundert wie ein roter Faden durchzog, nämlich die Abgrenzung von der kirchlichen Union. Das gilt erst recht für die Entstehungsgeschichte der VELKD in den 1930er und 1940er Jahren: Diese war durchgängig davon bestimmt, solche gesamtkirchlichen Einigungsbestrebungen abzuwehren, an deren Ende eine gemeinsame Kirche von lutherischen, reformierten und unierten Kirchen gestanden hätte. Es mag gewagt klingen, aber die lutherischen Einigungsbemühungen wurden in dieser Phase wesentlich von der Furcht konfessioneller Lutheraner beflügelt, andere Kräfte in der Bekennenden Kirche und später im deutschen Nachkriegsprotestantismus wollten mit der Barmer Theologischen Erklärung als Unionsbekenntnis eine ganz Deutschland umfassende Unionskirche schaffen. Insofern war die lutherische Vereinigung in der VELKD auch ein Produkt dessen, was der Kirchenhistoriker Wolf-Dieter Hauschild als lutherische „Unionsphobie“ bezeichnet hat.

Wie breit war das politische Spektrum unter den Lutheranern während der Nazizeit?

Auch wenn es zahlreiche lutherische Gebiete wie z. B. in Mittelfranken gab, in denen Hitler seine größten Wahlerfolge einfuhr, lassen sich politische Einstellungen, Wahlverhalten und Parteimitgliedschaften innerprotestantisch kaum und schon gar nicht allein an der Konfessionszugehörigkeit festmachen. Das politische Spektrum bei den Lutheranern sah auch nicht entscheidend anders aus als bei Reformierten und Unierten. Während der Weimarer Republik überwiegend tief konservativ, antisozialistisch und zum Teil explizit antidemokratisch eingestellt, begrüßte die große Mehrheit durch alle protestantischen Konfessionen hindurch 1933 das Ende der weithin verhassten Republik und stand den NS-Machthabern positiv gegenüber. Angesichts der nationalsozialistischen Kirchenpolitik kam es bei einem Teil dann allerdings zu einem bösen Erwachen. Dieser Teil sammelte sich - wiederum über alle protestantischen Konfessionen hinweg - in der Bekennenden Kirche. Bei den konfessionellen Lutheranern war es besonders die Rückbesinnung auf die historischen lutherischen Bekenntnisse, die sie in die Bekennende Kirche führte und zur Resistenz gegenüber den Irrlehren der Deutschen Christen und den Eingriffen des NS-Staates in die Kirche befähigte. Allerdings unterschieden sich die konfessionell eingestellten Lutheraner insofern von Reformierten und Unierten - und nicht weniger auch von konfessionell liberaler eingestellten Lutheranern -, als sie eine besonders schwere theologische Hypothek mit in die Zeit der NS-Herrschaft nahmen: Zwar war der gesamte deutsche Protestantismus traditionell obrigkeitshörig und in der Bekennenden Kirche bestand Konsens, dass sich ihr Widerstand keineswegs gegen den NS-Staat als solchen richtete, aber die konfessionellen Lutheraner waren bei ihrem Verhalten gegenüber dem NS-Staat durch die neulutherische Obrigkeitslehre des 19. Jahrhunderts gehemmt. Danach sollte es der Kirche von Gott verboten sein, den Staat öffentlich zu kritisieren, zu destabilisieren oder gar zum Sturz der Machthaber aufzurufen. Dementsprechend fielen die Proteste derjenigen Lutheraner, die sich unter den lutherischen Bischöfen der Bekennenden Kirche sammelten und organisierten, auch deutlich schwächer aus als die Proteste des bruderrätlichen Flügels der Bekennenden Kirche, der zu nicht geringen Teilen von der Theologie des berühmten reformierten Theologen Karl Barth geprägt war. Ein vergleichbares Wort wie z. B. die Denkschrift der Zweiten Vorläufigen Kirchenleitung an Hitler von 1936, in der das Unrecht der Konzentrationslager und der staatlich verordnete Judenhass angeklagt wurden, hat der organisierte lutherische Flügel der Bekennenden Kirche jedenfalls nicht hervorgebracht. Dies setzte sich auch nach 1945 fort: Während der Bruderrat der EKD - übrigens unter starker Beteiligung von Lutheranern - im Darmstädter Wort zum politischen Weg unseres Volkes schon 1947 die kirchliche Mitverantwortung am Nationalsozialismus bekannte und zu einer an sozialistischen Vorstellungen orientierten Wahrnehmung politischer Verantwortung durch die Christen aufrief, erwies sich die VELKD unter ihrem ersten Leitenden Bischof Hans Meiser unter Berufung auf die lutherische Zwei-Reiche-Lehre weiterhin als Verfechterin der politischen Enthaltsamkeit der Kirche.

Wie beurteilen Sie den lutherischen Anteil an der Barmer Theologischen Erklärung?

Wie der Kirchenhistoriker Thomas Martin Schneider zutreffend festgestellt hat, war die Barmer Erklärung ein Konsenspapier, das bei Lutheranern, Reformierten und Unierten gleichermaßen zustimmungsfähig sein musste. Sie sollte eben gerade nicht die Lehrunterschiede zwischen den protestantischen Konfessionen betonen, sondern die Gemeinsamkeiten in der Bekennenden Kirche. Deshalb ist es auch nicht ganz einfach, einzelne Aussagen konfessionell zuzuordnen, zumal dieselben Aussagen von Lutheranern, Reformierten und Unierten durchaus unterschiedlich verstanden werden konnten und auch wurden. Lutherische Anteile finden sich z. B. in der 5. These, in der bei der Verwerfung der deutschchristlichen Vermischung von Theologie und Politik die lutherische Zwei-Reiche-Lehre im Hintergrund steht. Ein weiteres Beispiel ist die 3. These, in der das lutherische Kirchen- und Sakramentsverständnis durchscheint. Obwohl die lutherische Handschrift hier und an anderen Stellen erkennbar ist und lutherische Theologen vom Anfang bis zum Ende an der Entstehung der Barmer Erklärung beteiligt waren, galt Karl Barth lange als der alleinige geistige Vater der Erklärung. Dass sie selbst heute noch häufig nicht mit dem Luthertum in Zusammenhang gebracht wird, hängt auch mit dem Verhalten der konfessionell denkenden Lutheraner nach dem Ende der Barmer Bekenntnissynode zusammen. Sie taten nämlich alles dafür, die Bedeutung der Erklärung herunterzuspielen, damit diese unter keinen Umständen als gemeinsames Bekenntnis von Lutheranern, Reformierten und Unierten verstanden werden konnte, sondern lediglich als ein gemeinsames Wort zur Abwehr von Irrlehren in der konkreten historischen Situation des Jahres 1934. Mitverantwortlich dafür, dass die lutherischen Anteile gerne übersehen wurden, war ferner eine Anekdote, die Karl Barth in die Welt gesetzt hat: Nach Barth soll die lutherische Kirche bei der Entstehung der Erstfassung der Erklärung geschlafen haben, während die reformierte Kirche emsig gewacht habe.

Inwiefern ergänzt die BTE die lutherischen Bekenntnisse?

Die Barmer Theologische Erklärung sollte die Bekenntnisse der Reformationszeit in einer konkreten historischen Ausnahmesituation aktualisieren, allerdings nicht nur die lutherischen, sondern auch die reformierten. Auf die Herausforderungen, vor der die Barmer Bekenntnissynode stand, konnten die Bekenntnisschriften aus dem 16. Jahrhundert naturgemäß nicht ohne weiteres eine Antwort geben. Sie spiegelten vielmehr die theologischen Auseinandersetzungen beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, verwarfen die Lehren der mittelalterlichen katholischen Kirche und definierten die Grundzüge der damals noch neuen reformatorischen Lehre. Die Herausforderungen hingegen, vor denen die Barmer Reichsbekenntnissynode stand, lagen nicht im Horizont der Verfasser der reformatorischen Bekenntnisschriften. Das waren zum einen die theologischen Irrlehren der NS-hörigen Deutschen Christen, die eine Synthese von Christentum erstrebten und die Kirche unter Preisgabe wesentlicher christlicher Glaubensinhalte gleichsam zu einer religiösen Unterabteilung des NS-Staates machen wollten, und zum anderen ein totalitärer Staat, der sein verbrecherisches und kirchenfeindliches Gesicht bereits zu zeigen begonnen hatte. Auf diese Herausforderungen gab die Barmer Bekenntnissynode eine Antwort, und zwar nicht im Sinne eines zeitlos gültigen Bekenntnisses, sondern einer Erklärung zur aktuellen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche im Frühjahr 1934.

Dabei ging die Erklärung zwangsläufig über die reformatorischen und auch über die lutherischen Bekenntnisse hinaus, besonders im Hinblick auf das rein christologische Offenbarungsverständnis, das sich gegen die von den Deutschen Christen betriebene theologische Überhöhung des politischen Geschehens zu göttlichem Handeln richtete, und nicht weniger auch im Hinblick auf den Totalitätsanspruch Jesu Christi, den die Barmer Erklärung dem Totalitätsanspruch des NS-Staates entgegensetzte. Beides entstammte der Theologie Karl Barths. Wenn Hans Meiser später behauptete, der Kirchenkampf hätte ohne Barmen allein auf Basis des lutherischen Bekenntnisses geführt werden können, so lag er damit nicht ganz richtig, denn die adäquate theologische Antwort auf die Herausforderungen durch NS-Staat und Deutsche Christen gab hier nicht das historische lutherische Bekenntnis, sondern ein reformierter Theologe, der sich im Gegensatz zu den konfessionellen Lutheranern nicht scheute, dabei teilweise sogar mit den eigenen reformierten Traditionen zu brechen.

Sie haben sich besonders intensiv mit dem bayerischen Bischof Hans Meiser beschäftigt. Hätte es die VELKD auch ohne eine solche starke Integrationsfigur wie ihn gegeben?

Auch wenn einzelne Männer nicht Geschichte machen können, wie es der Historiker Heinrich von Treitschke im 19. Jahrhundert behauptet hat, war Hans Meiser für die Gründung der VELKD eine ganz entscheidende, wenn nicht  d i e  Schlüsselfigur. Ähnlich wie das Zustandekommen der EKD letztlich dem unermüdlichen Einsatz und der außerordentlichen Integrationsfähigkeit des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm zu verdanken war, ist auch die Gründung der VELKD zu diesem Zeitpunkt und in dieser Form ohne Hans Meiser nur schwer vorstellbar. Auch die Doppelstruktur von EKD und VELKD geht zu nicht geringen Teilen auf sein Konto. Im Gegensatz zu Wurms Rolle in der EKD würde ich Meiser im Zusammenhang der Gründung der VELKD allerdings weniger als Integrationsfigur bezeichnen, sondern eher als treibende Kraft. Es war einerseits seine von den Zeitgenossen oft als stur und spaltend empfundene lutherisch-konfessionelle Beharrlichkeit, anderseits aber auch sein ausgeprägter Realitätssinn und eine für ihn überraschende Kompromissfähigkeit, die schließlich zum Gelingen der lutherischen Vereinigung in der VELKD führten. Ohne Meisers Kompromissfähigkeit wäre dies nicht geschehen, denn etwas anderes als ein Kompromiss konnte die VELKD unter den gegebenen Umständen letztendlich nicht werden. Das eigentliche Ziel, eine alle lutherischen Landeskirchen umfassende vereinte lutherische Kirche Deutschlands zu schaffen, die das seit der Reformationszeit bestehende Landeskirchenprinzip überwunden hätte, war nicht zu erreichen. Dieses Ergebnis entsprach zwar nicht Meisers Vorstellungen, aber dennoch betrachtete er das Zustandekommen der VELKD als größtes Geschenk seines Lebens.

War er ein Antisemit?

Meiser lehnte den aggressiven Rasseantisemitismus der Nationalsozialisten ab und betrieb auch keine antisemitische Agitation, hat aber die für seine Generation typischen antijudaistischen und antisemitischen Stereotype geteilt. Dies kommt in einer Artikelserie im Nürnberger Evangelischen Gemeindeblatt von 1926 deutlich zum Ausdruck. Darüber hinaus hat er während der NS-Zeit aus Sorge um die Kirche zum Zivilisationsbruch der Shoa öffentlich geschwiegen und sich nicht für Juden, sondern nur für Christen eingesetzt, die aus rassistischen Gründen vom NS-Regime verfolgt wurden. Dies wirft einen dunklen Schatten auf einen der Gründungsväter der VELKD und ihren ersten Leitenden Bischof. Immerhin sprach Meiser 1946 - wenn auch in heute unangemessen erscheinenden Formulierungen und nicht öffentlich - vor dem Weltluthertum die deutsche Schuld an den Juden aus, was bei deutschen Theologen zu diesem Zeitpunkt eine seltene Ausnahme war, und trug andere kirchliche Schuldbekenntnisse wie das Wort der Synode der EKD von 1950 zur Schuld an Israel mit.

Warum ist es nicht gelungen, alle lutherischen Strömungen in der VELKD zu vereinigen?

Dazu muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass die VELKD und die EKD in den Jahren 1945 bis 1948 parallel zueinander entstanden sind, und zwar teilweise in Konkurrenz und - das ist wohl kaum zu viel gesagt - in einer Art von Wettlauf. Auf der einen Seite standen solche, die aufgrund der im sogenannten Kirchenkampf gewachsenen Gemeinsamkeiten zwischen Lutheranern, Reformierten und Unierten den Zusammenschluss des deutschen Gesamtprotestantismus zu einer gemeinsamen Kirche erstrebten und die gegenseitigen Verwerfungen der Reformationszeit für überholt und nicht mehr kirchentrennend hielten. Dazu gehörten übrigens auch zahlreiche Lutheraner, zu denen sich selbst ein Martin Niemöller zählte, der von einer vereinten lutherischen Kirche bekanntermaßen gar nichts hielt. Auf der anderen Seite standen die konfessionellen Lutheraner, die unbeirrbar daran festhielten, dass die Lehrverwerfungen der Reformationszeit eben nicht überholt seien, und deshalb eine Kirchengründung ausschließlich auf Basis der reformatorischen lutherischen Bekenntnisse für theologisch zulässig hielten. Am Ende stand auf beiden Seiten ein Kompromiss: Die EKD sollte zwar eine Kirche sein, wurde es aufgrund der Haltung der VELKD-Lutheraner dann aber eben doch nicht; auf der anderen Seite wurde die VELKD zwar als Kirche in vollem Sinne gegründet, blieb letztlich aber ein Torso. Die Ursachen dafür, dass sich nicht alle lutherischen Kirchen der VELKD anschlossen, sind in diesem Spannungsfeld von werdender EKD und VELKD zu sehen: Grob gesagt, empfanden die einen die VELKD als konfessionell zu sehr verengt und als Gefahr für die kirchliche Gemeinschaft in der EKD, während sie die anderen für konfessionell zu lasch und kompromissbehaftet hielten. Das herausragendste Beispiel für die erste Gruppe ist die württembergische Landeskirche. Historisch geprägt von einer Mischung aus lutherischem Bekenntnis und reformierten Einflüssen, zeichnete sich schon während der NS-Herrschaft ab, dass Württemberg den Weg zu einer vereinigten lutherischen Kirche nicht mitgehen würde. Endgültig deutlich wurde dies im Herbst 1946, als Württemberg sich zur Einigung des deutschen Gesamtprotestantismus und zu einer echten Kirchengemeinschaft von Lutheranern, Reformierten und Unierten in der EKD bekannte, die sich auf eine sogenannte biblische Unität stützen sollte. Ein Beispiel für die zweite Gruppe sind die sogenannten Altlutheraner: Sie waren zwar seit 1936 dem Lutherrat angegliedert, traten 1947 aber aus und hoben sogar die Kirchengemeinschaft auf, weil ihnen der Lutherrat gegenüber der werdenden EKD zu kompromissbereit erschien. Der streng lutherische Erlanger Theologieprofessor Hermann Sasse trat 1948 aus Protest gegen die Gründung von VELKD und EKD sogar zur altlutherischen Kirche über, gab seine Professur auf und emigrierte nach Australien.

Hanns Lilje war der mit Abstand am längsten amtierende Leitende Bischof der VELKD. Welche Verdienste würden Sie an ihm besonders herausheben – und warum war er trotzdem eine ambivalente Figur?

Eine Gegenüberstellung von Verdiensten, Ambivalenzen oder auch Defiziten empfinde ich oft als etwas schwierig, weil das Urteil über historische Personen zu unterschiedlichen Zeiten anders ausfällt und manchmal auch ins Gegenteil umschlägt. Davon ist auch Lilje nicht ausgenommen. Es kann aber fraglos gesagt werden, dass er zu den bedeutenden lutherischen Gestalten des 20. Jahrhunderts gehörte. Das gilt nicht nur für seine eigene hannoversche Landeskirche, die VELKD und die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft, sondern auch für die Ökumene und insbesondere das Weltluthertum. Während der NS-Zeit wandte Lilje sich gegen die NS-hörigen Deutschen Christen und die kirchenfeindliche Politik des NS-Staates, ohne allerdings ein politischer Gegner des NS-Regimes zu sein. Weil er Kontakte zum Widerstand hatte, wurde er 1944 verhaftet und vom berüchtigten Volksgerichtshof verurteilt. Er gehörte am Ende also zu den Verfolgten. Bereits während der NS-Zeit begann Liljes Engagement für das Weltluthertum, was unter dem NS-Regime gänzlich unerwünscht war. Nach 1945 war er dann am organisatorischen Aufbau des Lutherischen Weltbunds und des Ökumenischen Rates der Kirchen beteiligt und bekleidete vor allem im Lutherischen Weltbund hohe Ämter. Sein ökumenisches Engagement trug mit dazu bei, Deutschland in der internationalen Völkergemeinschaft wieder hoffähig zu machen. Als Landesbischof von Hannover und Leitender Bischof der VELKD lagen Liljes Qualitäten vor allem auf dem Gebiet der Vermittlung kirchlicher Anliegen in die Öffentlichkeit. Kaum eine andere kirchliche Leitungspersönlichkeit verstand es so medienwirksam und souverän wie er, kirchliche Inhalte in den gesellschaftspolitischen Diskurs einzubringen, den Dialog mit Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft zu führen und dabei auch selbst aktiv publizistisch tätig zu werden. Dies war auch für die VELKD ein Gewinn, zumal Lilje ein gemäßigter Lutheraner war und ihm nicht der Ruf Meisers anhaftete, mit seinem Engagement für die lutherische Kirche in Deutschland und der Welt den Gesamtprotestantismus zu polarisieren und zu spalten.

Kritik an Lilje setzte schon zu seinen Lebzeiten ein. Unter seinen Zeitgenossen gab es Stimmen, die sich über ihn wegen seines klerikalen, gelegentlich an einen Barockfürsten gemahnenden Auftretens lustig machten. Ernsthaft in die Kritik geriet er dann aber wegen seiner Schrift von 1941 „Der Krieg als geistige Leistung“, die in den späten 1960er Jahren wiederentdeckt und so verstanden wurde, als habe er Hitlers verbrecherischen Krieg gutgeheißen und verherrlicht, was Lilje selbst vehement bestritt. Ein weiterer Kritikpunkt war Liljes Engagement für verurteilte NS-Täter. Damit war er freilich kein Einzelfall, sondern die gesamte Führungsschicht der EKD von Theophil Wurm über Martin Niemöller bis zu Hans Meiser setzte sich in der Nachkriegszeit und der jungen Bundesrepublik massiv für NS-Täter ein. Kein Einzelfall war Lilje auch mit seiner heute zurecht viel kritisierten Forderung, einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit zu ziehen, denn dies entsprach der Mentalität von Bevölkerung und Politik in der Ära Adenauer insgesamt. Kritisiert wird Lilje außerdem dafür, dass er sich zum Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus stilisieren ließ, ohne selbst im politischen Widerstand aktiv gewesen zu sein.

Sie nennen sich selbst eine Lutheranerin. Was ist für Sie das Wesentliche am Luthertum?

Das möchte ich nicht in Form eines Bekenntnisses zu spezifisch lutherischen Lehrsätzen beantworten, sondern auf persönlicher Ebene. Es geht dabei schließlich nicht nur um Dogmatik und Ethik, sondern auch um Fragen des persönlichen Glaubens. Ich bin in eine lutherische Kirche hineingeboren und mit lutherischer Lehre und Gottesdienstformen aufgewachsen, ohne diese zu hinterfragen oder überhaupt etwas anderes zu kennen. Im Studium war dann der Münchner Reformationshistoriker und Lutherforscher Reinhard Schwarz mein prägender akademischer Lehrer. Er hat nicht nur meine Begeisterung für die Kirchengeschichte geweckt, sondern speziell auch für Luther und die Reformationsgeschichte. Auch meine späteren wissenschaftlichen Lehrer und Begleiter Carsten Nicolaisen und Harry Oelke waren Lutheraner. Mein eigener wissenschaftlicher Werdegang in der Kirchlichen Zeitgeschichte war und ist über weite Strecken von der Beschäftigung mit lutherischen Kirchen und Persönlichkeiten bestimmt. Dabei ist es freilich nicht meine Aufgabe, Partei für das Luthertum zu ergreifen oder dessen Vorzüge anzupreisen, sondern die Geschichte des Luthertums nüchtern und kritisch zu analysieren. Diese Geschichte - angefangen von Luthers Antisemitismus bis hin zum Versagen der lutherischen Kirchen gegenüber den nationalsozialistischen Verbrechen - war wie die Geschichte anderer christlicher Kirchen weithin eine Ansammlung von Verirrungen und Defiziten. Trotzdem liegen mir Luther und das Luthertum persönlich auch heute noch näher als Zwingli oder Calvin, insbesondere die gegenüber reformierten Traditionen doch etwas näher an der menschlichen Wirklichkeit orientierte und weniger rigorose Ethik Luthers, aber auch die Liturgie im lutherischen Gottesdienst und die Gestaltung der Gotteshäuser. Und - obwohl dies kein lutherisches Alleinstellungsmerkmal geblieben ist - das Herzstück lutherischen Glaubens bleibt natürlich Luthers sola gratia, das Angenommen-Sein von Gott allein aus Gnade.

Ist das Luthertum nur Nostalgie oder eine wichtige Stimme in aktuellen und künftigen Debatten?

Angesichts des Bedeutungsverlusts der Kirchen, den der Historiker Thomas Großbölting unter dem Titel „Der verlorene Himmel“ schon vor zehn Jahren eindrucksvoll geschildert hat, sowie der schneller als erwartet eingetretenen Erosion der Volkskirche müsste man inzwischen wohl eher fragen, ob nicht das gesamte westeuropäische Christentum nur noch Nostalgie ist. Zudem hat sich der prosperierende Schwerpunkt des Christentums global betrachtet längst in Erdteile verschoben, die bis vor nicht allzu langer Zeit noch paternalistisch als hilfsbedürftige Missionsgebiete betrachtet wurden. Trotz dieser Entwicklungen halte ich das Luthertum in aktuellen und künftigen Debatten für eine unverzichtbare Stimme. Dies kann meiner persönlichen Meinung nach aber nur dann so bleiben, wenn sich die lutherische Kirche wieder auf ihren Markenkern besinnt, und der ist nicht nur ethischer und politischer Natur, sondern rührt an die existentiellen religiösen Fragen jedes einzelnen Menschen, auf die Luther auch heute noch Antworten geben kann. Hier teile ich in vielerlei Hinsicht die Positionen von Thomas Martin Schneider, der zur Zeit wohl einer der besten deutschen Kenner der Geschichte des Luthertums und ein kritischer Beobachter der gegenwärtigen kirchlichen Entwicklungen ist. Er hat die Zukunftsfähigkeit der Kirche jüngst davon abhängig gemacht, ob es ihr gelingt, sich an den „wesentlichen Elementen der von Luther ausgegangenen Reformation zu orientieren“. Dazu gehören für ihn u. a. ein pessimistisch-realistisches Menschenbild, die grundlose Gnade Gottes, die Erlösung durch Jesus Christus, die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen sowie Ethik als Folge und nicht Voraussetzung der Rechtfertigung. Diese Grundelemente lutherischen Glaubens mögen für die überwiegende Mehrheit inzwischen wie unverständliche Fremdwörter aus einer lang verflossenen Zeit klingen; wer aber könnte ihre Relevanz für die Menschen der Gegenwart besser aufzeigen als die VELKD?