Fragen zum Stuttgarter Schuldbekenntnis
an Siegfried Hermle, emeritierter Professor für Evangelische Theologie und ihre Didaktik/Historische Theologie an der Universität zu Köln

Wäre das Schuldbekenntnis auch ohne den Besuch hochrangiger Vertreter des Ökumenischen Rats der Kirchen im Oktober 1945 zustande gekommen?
»Was-wäre-wenn-Fragen« sind immer spekulativ. Ob ein Schuldbekenntnis seitens der evangelischen Kirche ohne den Besuch der hochrangigen ökumenischen Delegation bereits im Oktober 1945 zustande gekommen wäre, bezweifle ich, waren doch zunächst zahlreiche Unstimmigkeiten und Schwierigkeiten innerhalb des Rates zu besprechen und zu klären. Allerdings stand hochrangigen Vertretern der EKD die Notwendigkeit eines Schuldbekenntnisses seitens der evangelischen Kirche klar vor Augen: Pastor Hans Asmussen beispielsweise hatte bereits im Dezember 1942 in einem Brief an den Generalsekretär des Weltrates der Kirchen, Willem Visser t‘ Hooft, deutlich gemacht, dass man »guter Zuversicht sein [könne], daß die Welt für ein kirchliches Zeugnis« angesichts der aufgehäuften Schuld »bereiter sein wird als nach dem letzten Weltkriege. Jedenfalls gilt das für mein Volk. Hier finde ich – nicht nur unter den Theologen – eine Bereitschaft, von Schuld zu hören.« Nach Kriegsende hatte die Spandau Bekenntnissynode am 31. Juli 1945 in einem Wort herausgestellt, dass die amtliche Kirche sich »weitgehend als blind und taub erwiesen« habe und dass sich daher Pfarrer und Gemeindeglieder »dem Vorwurf stellen [müssten], daß ihr Versagen ein Verhängnis und eine Schuld gegenüber unserer Kirche und unserem Volk gewesen ist«. Auch die Bekennende Kirche habe Schuld auf sich geladen, zumal das eigene Leiden im Blick auf das Schweigen zu dem Terror gering zu veranschlagen sei. Verwiesen sei zuletzt noch auf ein Votum Martin Niemöllers, der beim Treffen evangelischer Kirchenführer im hessischen Treysa im August 1945 die Unerlässlichkeit von Schulderkenntnis und -bekenntnis betont hatte. Zudem machte er deutlich, dass Persönlichkeiten, die NS-konforme Äußerungen getan hätten, nicht in Kirchenleitungen verbleiben könnten. Diese und ähnliche andere Äußerungen könnten dafür sprechen, dass die EKD ein – wie dann auch immer geartetes – Wort zu Schuld gesprochen hätte.
Warum wurde der Genozid an den Jüdinnen und Juden nicht erwähnt, obwohl der Antisemitismus sich doch auch aus antijudaistischen christlichen Wurzeln speiste?
In keinem der in Stuttgart vorgetragenen Voten wurde der Genozid an Jüdinnen und Juden thematisiert, auch nicht in den beiden Entwürfen für die Stuttgarter Erklärung, die Hans Asmussen und Otto Dibelius angefertigt hatten. Dies überrascht zunächst etwas, hatte doch der württembergische Landesbischof Theophil Wurm bereits im Juni 1945 in einem Schreiben an die wieder neue begründete Israelitische Religionsgemeinschaft die »satanischen Maßnahmen, die von deutscher Seite zur Vernichtung des Judentums in Deutschland und Europa angewandt wurden«, benannt und herausgestellt, dass man »jene entsetzlichen Vorkommnisse leider nicht verhindern« konnte. Allerdings bekannte er nicht ausdrücklichen eine Mitschuld oder Mitverantwortung der Kirche, vielmehr stellte er heraus, dass auch die Kirche Verfolgungen ausgesetzt gewesen sei. Seine Vorstellungen bei der Reichsregierung wegen deren »Politik der Unterdrückung und Ausrottung aus Gründen der Rasse und des Glaubens« seien erfolglos geblieben. Auch in einem Text, den Wurm für die Versammlung in Treysa im Juli 1945 vorbereitet hatte, war davon die Rede, dass die Kirche sich nicht weigere, »die Schuld mitzutragen, die die führenden Männer in Staat und Partei auf unser Volk gehäuft haben!« Und ausdrücklich wurden »insbesondere die Geiselmorde und de[r] Massenmord an den deutschen und polnischen Juden« verurteilt. Anzuführen wäre weiter noch der Entwurf eines Schuldbekenntnisses, den der Münsteraner Pfarrer Gottlieb Funcke mit Zustimmung Friedrich von Bodelschwinghs an Wurm übersandt hatte. In diesem war eindeutig von der deutschen Schuld und unter anderem unmissverständlich formuliert: »Grausamkeiten gegen deutsche, polnische, russische und vor allem jüdische Menschen« sowie in Konzentrationslagern ließen »unser Volk in seiner Gesamtheit schuldig« werden. Die Ausrede, man habe es nicht gewusst, könnten nicht vorgebracht werden, da »die unmenschliche Misshandlung des deutschen Judentums« bekannt gewesen sei, man habe sie geduldet; daher »sind wir mehr oder minder mitschuldig geworden.« Obwohl also der unfassbare Völkermord den in Stuttgart versammelten Kirchenvertreter vor Augen stand, fehlen entsprechende konkrete Formulierungen im Schuldbekenntnis. Man hat dies dadurch zu erklären versucht, dass das Stuttgarter Wort an die anwesenden Vertreter der Ökumene gerichtet war und eben nicht an Vertreter jüdischer Organisationen. Allerdings hat es auch in Frankreich oder den Niederlanden massive Verfolgungen und Deportationen gegeben; insoweit vermag diese Überlegung nicht zu überzeugen. Dass der Völkermord nicht erwähnt wurde, könnte auch damit zu tun haben, dass in dem Stuttgarter Text ja jegliche Konkretion fehlt. Allerdings ist auch dies eine letztlich unzureichende Erklärung.
Um den Wortlaut wurde gerungen – besonders umstritten war der von Martin Niemöller eingebrachte und erkämpfte Satz: »Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.« Warum fiel die Einsicht in die offensichtliche eigene Schuld so schwer?
In der Nachmittagssitzung des 18. Oktober sprachen Hans Asmussen und Martin Niemöller gegenüber den Vertretern des Ökumenischen Rates unmissverständlich von der Schuld der deutschen evangelischen Kirche. Die Frage war, wie diese Voten in eine schriftliche Form gebracht werden konnten. Otto Dibelius und Hans Asmussen legten für die Abendsitzung Entwürfe einer Erklärung vor. Entscheidend war, dass man – um eine Aufrechnung von Schuld und Gegenschuld zu vermeiden – entschied, in der Erklärung ausschließlich von der eigenen, deutschen Schuld zu sprechen. Da der Entwurf von Dibelius den Schwerpunkt auf den neuen Anfang legte, der in der evangelischen Kirche gemacht werden müsse, wurde dieser im Folgenden weiter beraten. Martin Niemöller drängte darauf, aus dem Text von Asmussen einen Satz zu übernehmen: „Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden“. Dass nicht klarer und deutlicher von der eigenen Schuld gesprochen wurde, mag mit drei Punkten zusammenhängen: Zum einen empfand man sich selbst als durch das nationalsozialistische Regime als verfolgt, zum anderen wähnte man sich, beispielsweise durch die Eingaben Wurms, als jemand, der dem Staat ins Gewissen geredet hatte, und zum dritten dürften die Berichte von den ungeheuerlichen Vorgängen im Osten, mit der Vertreibung von Millionen Menschen, den zahllosen Vergewaltigungen und Morden, bei den Ratsmitgliedern Spuren hinterlassen haben.
Konservative Lutheraner verwiesen in ihrer Ablehnung der Schulderklärung auf die Zwei-Regimenter-Lehre. Zurecht?
Am 27. Oktober brachte der Kieler Kurier einen Beitrag über die Stuttgarter Erklärung mit der Überschrift: »Schuld für endlose Leiden. Evangelische Kirche bekennt Deutschlands Kriegsschuld«. Dagegen erhob sich ein Sturm des Protestes, weckte die Bezeichnung „Kriegsschuld“ doch Assoziationen zum Versailler Vertrag, in dem Deutschlands alleinige Kriegsschuld am Ersten Weltkrieg festgeschrieben worden war. Die verfügten Gebietsabtrennungen im Norden, Osten und Westen waren ebenso als unakzeptabel empfunden worden wie die hohen Reparationslasten oder der Verlust der Kolonien. Man fürchtete, dass die evangelische Kirche durch die Stuttgarter Erklärung Wegbereiter einer erneuten Zurücksetzung und Bedrückung Deutschlands werden könnte. Die Zwei-Regimenter-Lehre spielte beispielsweise in einem Schreiben der vorläufigen Kirchenleitung der Schleswig-Holsteinischen Kirche zur Stuttgarter Erklärung eine Rolle, in der Kritik in zweierlei Hinsicht geäußert wurde: Wenn diese »ein Bekenntnis vor Gott sein sollte«, hätte sie nicht an Menschen gerichtet werden sollen, sondern hätte »ein Bekenntnis in der gottesdienstlichen Gemeinde« sein müssen. Wenn in diesem Text »eine politische Schuld festgestellt« werde, so sei die »Feststellung solcher Schuld […] ein politisch-historisches Urteil, welches zur Zeit keine Instanz der Welt, auch keine Kirche« fällen könne. Eben diese letzte Bemerkung jedoch macht die starre Betonung einer Zwei-Regimenter-Lehre obsolet. Die beiden Kirchen waren in dieser Situation die einzigen Institutionen, die gegenüber den Siegermächten sprechen konnten. Die evangelische Kirche war – wie es Martin Greschat einmal formulierte – »Mund und Stimme […] für das deutsche Volk« und sie sprach »für das geschlagene, zerbrochene und gedemütigte deutsche Volk«. Diese Verantwortung hat sie wahrgenommen, da, so Wurm, die Kirche »die Schuld mitzutragen [habe], die die führenden Männer in Staat und Partei auf unser Volk gehäuft haben!«
Wie bewerten Sie das Bekenntnis heute im Rückblick – ein Ruhmesblatt oder eine nur schlecht genutzte Chance?
Von heute aus betrachtet erscheinen die Defizite in der Stuttgarter Erklärung beträchtlich: Sie bleibt unkonkret, bietet problematisch anmutende relativierende Formulierungen, nennt keine klaren Konsequenten für die Kirche und spart den ungeheuerlichen Völkermord an Jüdinnen und Juden aus. Letztere Leerstelle schmerzt in besonderer Weise, da der Kirche – wie wir in einem langen, schmerzhaften Prozess – verstehen lernen mussten, eine beträchtliche Mitschuld an Antijudaismus und Antisemitismus zukommt. Diese Lücke empfand auch die Kirchlich-theologische Sozietät in Württemberg als besonders gravierend, als sie am 9. April 1946 in einer Konkretisierung der Stuttgarter Erklärung ausdrücklich darauf verwies, dass man »mutlos und tatenlos zurückgewichen [sei], als die Glieder des Volkes Israel unter uns entehrt, beraubt, gepeinigt und getötet worden sind.« Auch habe man »indirekt dem Rassedünkel Vorschub geleistet« durch das Ausstellen von Ariernachweisen und »zu wenig Widerspruch gewagt gegen die Vergötzung unseres Volkes«. Die Defizite der Stuttgarter Erklärung wurden schon zeitgenössisch empfunden: Ergänzende Auslegungen des Textes, beispielsweise durch Asmussen oder Niemöller, sowie Erklärungen zahlreicher Synoden oder kirchlicher Gruppierungen suchten diesen beizukommen – am bekannteste dürfte das vom Bruderrat der Bekennenden Kirche am 8. April 1948 verabschiedete Darmstädter Wort sein (das freilich seinerseits wieder auf vehementen Widerspruch stieß).
Neben dieser Kritik im Innern fand die Stuttgarter Erklärung jedoch in der Ökumene zustimmende und wohlwollende Aufnahme und ebnete den evangelischen Kirchen den Weg zurück in die Gemeinschaft der Ökumene. Beispielsweise erklärte die Ende Oktober in Nîmes tagende Synode der französischen Kirche, dass man von dem Wort in »Demut Kenntnis« nehme und sich freue, »festzustellen, dass auf diese Weise die Wiederaufnahme der normalen Beziehungen der Kirchen Deutschlands mit anderen Kirchen wieder ermöglicht wird«. Die Synode der Niederländischen Reformierten Kirche erklärte im März 1946, dass man mit »großer Dankbarkeit Kenntnis von der Erklärung« genommen habe; man danke Gott, »dass er uns die Gnade geschenkt hat, nun wieder in offener und ungebrochener ökumenischer Verbundenheit zusammenzuarbeiten«. Eine direkte Wirkung der Erklärung ist auch darin zu sehen, dass Christinnen und Christen in den USA umgehend großzügige Hilfen für die notleidende Bevölkerung in Deutschland auf den Weg brachten. Auch wäre es nur schwer vorstellbar, dass ohne die Stuttgarter Erklärung Martin Niemöller bei der förmlichen Konstituierung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 zu einem der sechs Präsidenten dieses Zusammenschlusses gewählt worden wäre.
Die Erklärung war also zugleich Ruhmesblatt und schlecht genutzte Chance: In der Ökumene öffnete sie die Türen für die deutschen Kirchen und fand – weitgehend – zustimmende Aufnahme, in Innern jedoch wurde über ihre Bedeutung und vor allem über zu ziehenden Konsequenten heftig gestritten. Auf jeden Fall markierte die Stuttgarter Erklärung einen tiefen Wandel: Die evangelischen Kirchen hatten sich nach dem 1. Weltkrieg kritiklos an der Polemik gegen den Versailler Vertrag beteiligte und jede Mitschuld am Krieg zurückgewiesen, nun aber erfolgte eine – vorsichtige – Abkehr von ihrem nationalprotestantischen Erbe – ein Schritt, der auf große Widerstände stieß und in der Kirche noch lange kontrovers diskutiert werden sollte.