Stuttgarter Schuldbekenntnis
Einführung
Das Stuttgarter Schuldbekenntnis wurde am 19. Oktober 1945 vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verabschiedet – wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Inmitten von Zerstörung und dem Wissen um die Verbrechen des Nationalsozialismus bekannten führende Kirchenmänner öffentlich ihre Mitschuld: Sie hatten nicht genug gegen Unrecht, Gewalt und Judenverfolgung getan. Anlass für die Entstehung des Textes war ein Besuch von Vertretern des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), die zur Versöhnung mit den Deutschen und zur Aufnahme der EKD im ÖRK bereit waren. Hierzu erwarteten sie aber ein glaubwürdige Schuldbekenntnis.
Unterzeichnet wurde der Text von Mitgliedern des vorläufigen Rates der EKD:
- Pfarrer Hans Christian Asmussen (Schwäbisch Gmünd / Leiter der Kirchenkanzlei)
- Generalsuperintendet Otto Dibelius (später Landesbischof der Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg und Ratsvorsitzender der EKD)
- Pfarrer Hugo Hahn (Landesbischof der Ev.-luth. Landeskirche Sachsens)
- Synodaler Gustav Heinemann (später Bundespolitiker und Bundespräsident)
- Pfarrer Heinrich Held (Essen / später Präses der Ev. Kirche im Rheinland)
- Generalsekretär Hanns Lilje (Lutherischer Weltkonvent / später Landesbischof der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers)
- Landesbischof Hans Meiser (Bayern)
- Pfarrer Martin Niemöller (später Kirchenpräsident der Ev. Kirche in Hessen und Nassau)
- Pfarrer Wilhelm Niesel (später Theologieprofessor und Präses des Reformierten Bundes)
- Prof. Rudolf Smend (Göttingen)
- Landesbischof Theophil Wurm (Württemberg)
Der Text war damals ein Wendepunkt. Er stellte die junge EKD in die Reihe der Schuldigen und nicht der Unbeteiligten – ein Schritt, der international Beachtung fand, zugleich aber auch innerkirchlich auf Widerstände stieß. Viele hielten die Formulierungen für zu vage oder zu mutig.
Heute gilt das Schuldbekenntnis als ein Grunddokument evangelischer Erinnerungskultur. Es erinnert daran, dass Kirche Verantwortung trägt, wo Menschenrechte verletzt und Unrechtssysteme gestützt werden. Sein Kern – das ehrliche Eingeständnis von Versagen vor Gott und den Menschen – fordert auch in aktuellen Krisen dazu heraus, Schuld nicht zu verdrängen, sondern sie zu benennen und daraus Konsequenzen zu ziehen.
Das Stuttgarter Schuldbekenntnis
Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland begrüßt bei seiner Sitzung am 18./19. Okt. 1945 in Stuttgart Vertreter des Ökumenischen Rates der Kirchen.
Wir sind für diesen Besuch um so dankbarer, als wir uns mit unserem Volk nicht nur in einer großen Gemeinschaft der Leiden wissen, sondern auch in einer Solidarität der Schuld. Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.
Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden. Gegründet auf die Heilige Schrift, mit ganzem Ernst ausgerichtet auf den alleinigen Herrn der Kirche gehen sie daran, sich von glaubensfremden Einflüssen zu reinigen und sich selber zu ordnen. Wir hoffen zu dem Gott der Gnade und Barmherzigkeit, dass er unsere Kirchen als sein Werkzeug brauchen und ihnen Vollmacht geben wird, sein Wort zu verkündigen und seinem Willen Gehorsam zu schaffen bei uns selbst und bei unserem ganzen Volk.
Dass wir uns bei diesem neuen Anfang mit den anderen Kirchen der ökumenischen Gemeinschaft herzlich verbunden wissen dürfen, erfüllt uns mit tiefer Freude.
Wir hoffen zu Gott, dass durch den gemeinsamen Dienst der Kirchen, dem Geist der Gewalt und der Vergeltung, der heute von neuem mächtig werden will, in aller Welt gesteuert werde und der Geist des Friedens und der Liebe zur Herrschaft komme, in dem allein die gequälte Menschheit Genesung finden kann.
So bitten wir in einer Stunde, in der die ganze Welt einen neuen Anfang braucht: Veni creator spiritus!
Fragen zum Stuttgarter Schuldbekenntnis
an Siegfried Hermle, emeritierter Professor für Evangelische Theologie und ihre Didaktik/Historische Theologie an der Universität zu Köln