Weiße Strich-Zeichnungen von Immanuel Kant und einem Kreuz auf violettem Hintergrund.

Kants Jesus – aufklärerisch flach oder gut lutherisch?

von Dr. Georg Raatz

Was Jesus für seine Anhängerinnen und Jünger bedeutete, wissen wir aus den Evangelien des Neuen Testamentes und ein paar wenigen außerbiblischen Quellen. Welche Bedeutung er jedoch für uns heute hat, versteht sich nicht von selbst. Was das Wesentlich an ihm für eine Zeit war oder ist, kann sich nur einer je aktuellen kritischen und zugleich konstruktiven Aneignung verdanken. Der Gang durch die Theologie-, Christentums- und Frömmigkeitsgeschichte zeigt: Jede Epoche hatte ihren eigenen Jesus. Alle Jesusbilder haben ihre neutestamentlichen Anhaltspunkte; von richtig oder falsch, angemessen oder unangemessen, zu wenig oder zu viel kann ohne weiteres nicht gesprochen werden. Jedes Jesusbild fokussiert etwas und konzentriert sich auf wenige Punkte. Auch Luther ist so verfahren, weshalb ihn Adolf von Harnack zu Recht als Genie der Reduktion bezeichnet hat.

Der Aufklärung im Allgemeinen und Immanuel Kant im Besonderen wurde oft vorgehalten, sie würden Jesus auf seine Rolle als moralischer Tugendlehrer reduzieren. Stimmt das?

Kant hat sein Christentumsverständnis vor allem in seiner Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (RiV, 1793) dargelegt. Ziel des Menschen oder Schöpfungszweck ist die moralische Vollkommenheit; Kant kann auch von „Gotteskindschaft“ und „Reich Gottes“ sprechen. Er lehnt sich in diesem Spätwerk überhaupt sehr eng und soweit es ihm möglich ist an die traditionelle lutherische Lehre an. In den vier Stücken bildet er das Drama ab, das jeder Mensch als moralisch-religiöses Subjekt durchmacht: 1. Einwohnung des radikalen Bösen, 2. Kampf des Guten mit dem Bösen, 3. Sieg des Guten über das Böse und die Gründung des Reiches Gottes und schließlich 4. von Religion, falschem und rechtem Gottesdienst.

Kant weist nun Jesus auf dieser Kampfarena eine ganz bestimmte Aufgabe zu:

  • Im Kampf jedes Menschen gegen das innere Böse bedarf er eigentlich nur eines vernünftigen Begriffs des Guten. Darin kann er aber von der Religion unterstützt werden. Das Christentum kommt der rein sittlichen Religion am nächsten.
  • Zur vernünftigen Idee eines gottwohlgefälligen Lebens steuert das Christentum mit Jesus das Ideal bei; also eine Personifikation dieser Idee. Jesus verkörpert die Realisierung und Realisierbarkeit des Guten.
  • Indem sich der Mensch an diesem Ideal orientiert und zum Guten erhebt, versteht er dieses Ideal als Urbild. Und sofern er in sich dieses Urbild verwirklichen will, hat Jesus die Rolle eines Beispiels oder Vorbildes.
  • Wichtiger aber ist Kants Begründung, warum Jesus überhaupt als Vorbild in Frage kommt. Dabei bezieht er sich ganz auf seine Menschheit. Denn auch Jesus war der Welt, Anfechtungen und dem Leiden ausgesetzt – bis hin zum Tod am Kreuz. Jesus ist also „gleichsam vom Himmel auf die Erde herabgekommen, der durch Lehre, Lebenswandel und Leiden das Beispiel eines Gott wohlgefälligen Menschen an sich gegeben“ (RiV, AA S. 78f.) hat.

Kants Jesus ist also keineswegs nur der Tugendlehrer. Sondern mit seinem ganzen Leben, mit seinem Leiden und Kreuzestod ist er für den Menschen donum und exemplum, Gabe und Aufgabe, wie Luther sagt. Auch bei Luther ist Jesus gutes Beispiel; auch bei Kant ist Jesus eine Gabe, aber nur sofern der Mensch es als Barmherzigkeit und Gnade verstehen kann, dass ihm das väterlich-göttliche Herz durch Jesus vor Augen geführt wird und dass Jesus dafür selbst die ganze Welt auf sich genommen hat.

Die beiden tiefsten Punkte aber, wo sich Kant und Luther berühren, sind diese:

  1. Für beide besteht das Wesen der Religion und des Christentums darin, dass es nicht um die Aneignung historisch überkommener Wahrheiten geht, sondern darum, sich selbst in seiner ganzen Tiefe, Ambivalenz und Angewiesenheit zu verstehen. Dabei ist es zweitrangig, ob das Göttliche als eine personale Macht (Luther) oder als Heiligkeit des Sittengesetzes (Kant) vorgestellt wird. Denn beide Male geht es um das, was mich als Menschen im tiefsten Herzen berührt und aufrichtet.
  2. Und beide beziehen sich auf die Person Jesu nur in Bezug auf diese existentielle Frage des Menschen nach sich selbst im Angesichts Gottes (Luther) und der unbedingten Geltung des Sittengesetzes (Kant). Spekulationen und metaphysische Bestimmungen seiner Person sind für beide unwichtig. Für beide fungiert ein vorgängiges Verständnis von Religion und Christentum als Leitfaden für die Frage danach, was Jesus dem Menschen bedeutet.

Beide, Luther und Kant, haben den Geist, haben letzte Grundprinzipien des Protestantismus je auf ihre Weise und je für ihre Zeit in Erscheinung treten lassen.

Beide stehen zu ihrer je eigenen Christentumsgeschichte in einer Spannungseinheit von Kontinuität und Diskontinuität, oder auf eine Formel gebracht: So sehr Luther sich in biblischer Tradition wusste, so sehr hat er auch ein neues Verständnis von Christentum gestiftet. Und: So sehr sich Kant selber in einer Traditionslinie mit Luther verstand, so sehr setzte er auch neue Akzente. Die plumpe Frage nach einfachen Entsprechungsverhältnissen verbietet sich somit oder würde an Kant andere Kriterien anlegen als an Luther.

Und schließlich: Nicht nur auf Kant beziehen wir uns kritisch. Vielmehr ist unser heutiges Verständnis von Kant und Luther gleichermaßen sowohl kritisch als auch konstruktiv. Wahr an beiden ist nur das, was wir als wahr erweisen und für uns heute aneignen können. Hier sitzen Luther und Kant in einem Boot.

Und wenn man es am Ende noch auf die Ebene des Theologiepolitischen heben wollte, dann könnte man sagen: Das Luthertum und die VELKD tun gut daran, sich in der historischen Vergewisserung über sich selbst nicht nur auf die Anfänge in der Reformation und auf Luther zurückzubeziehen. Vielmehr sollte sie in ihrer Erinnerungskultur die gesamte Tradition von Reformation, Alt- und Neuprotestantismus in Betracht ziehen. Aus diesem Gesamtkomplex sind in kritisch-konstruktiver Weise Grundprinzipien des Lutherischen zu entwickeln, an denen gemessen dann auch Luther in vielem als Kind seiner Zeit erscheint, vieles von seiner Theologie nicht mehr als wesentlich gelten kann. Zugespitzt könnte man auch sagen: Der gegenwärtige Protestantismus, auch das aktuelle Luthertum, ist ein Kind der Reformation und der Aufklärung. Wenn das Kant-Jubiläum dazu beiträgt, dass wir uns dieses wieder bewusst machen, dann hat es für uns einen Zweck erfüllt, der über museale Denkmalpflege weit hinausgeht.