50 Jahre Leuenberg

Ein Vortrag von The Revd. Dr. John P. Bradbury, geschäftsführender Präsident der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), bei der EKD-Kirchenkonferenz am 6. September 2023 in Hannover.

Als im Jahr 2018 die Vollversammlung der GEKE in Basel zusammenkam, waren die Debatten darüber, wie der Brexit aussehen sollte, auf ihrem Höhepunkt. Großbritannien hatte auf Grundlage einer Vision für eine Zukunft, die es niemals geben könnte, für den Brexit gestimmt. Nun arbeitete das Land daran zu klären, welche Beziehung es zur Europäischen Union wollte. Großbritannien war tief gespalten. Auf der einen Seite standen diejenigen, die befürchteten, dass das Land einen schrecklichen Fehler machen würde. Auf der anderen Seite diejenigen, die wütend darüber waren, dass ihnen das, was sie als ihre demokratische Entscheidung empfanden, verwehrt werden könnte. In diesem Kontext des Brexits wurde ich eingeladen, als Präsident der GEKE zu kandidieren: der erste GEKE-Präsident aus Großbritannien. Ich war zu dieser Zeit sehr auf einer anspruchsvollen Gemeindestelle beschäftigt, und mein Kollege vor Ort war zugleich Moderator der Vollversammlung unserer Vereinigten Reformierten Kirche (United Reformed Church). Es blieb keine Zeit, mich auf das Amt als Präsident der GEKE vorzubereiten. Und doch schien es im Kontext des Brexits ein wichtiges Zeichen für die Verpflichtung der Kirche zu sein, über politische Grenzen hinweg den europäischen Gedanken zu leben. Ohne den Brexit, so vermute ich, wäre ich vielleicht nicht Präsident der GEKE geworden. Ohne den unglücklichen Rücktritt unseres ehemaligen Geschäftsführenden Präsidenten wäre ich sicherlich nicht Geschäftsführender Präsident geworden! 

Überall und irgendwo

Das Brexit-Votum spricht meiner Meinung nach für viele der Herausforderungen, vor denen Europa derzeit steht. Kurz nach der Abstimmung wurde ein Buch veröffentlicht, in dem argumentiert wurde, dass die Bevölkerung in Großbritannien in sogenannte „Anywhere“-Menschen und „Somewhere“-Menschen gespalten gewesen sei („Überall“-Menschen und „Irgendwo“-Menschen oder besser: „Die örtlich Ungebundenen“ und die „Ortsgebundenen“). „Anywhere“-Menschen hatten in Mehrheit gegen den Brexit gestimmt. Sie waren tendenziell höher gebildet und viel mobiler. Sie konnten sich überall zu Hause fühlen. Sie reisen beruflich und privat, engagieren sich in der Industrie und bei der Arbeit, die global vernetzt ist, ihr Medienhorizont ist global, und sie haben kein besonders starkes Gespür für die Bedeutung der Nationalität. „Somewhere"-Menschen haben ein stärkeres Heimatgefühl. Ihre familiären Bindungen sind mit einem lokalen Ort verknüpft, und ihnen ist die lokale Gemeinschaft, in der man Menschen kennt und mit ihnen verbunden ist, wichtig. Nationalität ist wichtig. Tradition ist wichtig. Wenn sie sich auf Reisen begeben, ist ihnen wichtig, sich „zu Hause“ zu fühlen und sie messen alles an ihrem „Zuhause“; denn: sie können sich nur an einem bestimmten Ort wirklich zu Hause fühlen. 

Dieses Argument ist natürlich viel zu einfach simplifizierend. Es gibt viele komplexe Gründe, welche hinter der Entscheidung für den Brexit stehen. Aber ich finde in diesem Portrait von „Anywhere“-Menschen und „Somewhere“-Menschen ist auch etwas Tiefgreifendes erkennbar. Wenn ich in diesen Tagen auf Europa schaue, sehe ich eine politische Situation, in welcher Elemente dieser Analyse sichtbar sind. Populistischer Nationalismus ist eine treibende Kraft in unserem heutigen Europa. Dieser ist oft in einer „Somewhere“-Perspektive gegründet. In dieser Perspektive ist der (Heimat-)Ort wichtig, Familie und Nation stehen im Mittelpunkt. Globalisierung wird als Gefahr erlebt, weil sie zum Verlust lokaler Identität und zu wirtschaftlicher Instabilität führen kann. Migration wird als problematisch erfahren und führt zu Angst vor anderen kulturellen Werten. Stattdessen wird die eigene Heimat betont, und es wird bei globalen Themen erklärt, dass wir uns zuerst um einen partikularen Ort, nämlich unsere Heimat, kümmern müssen. 

fünf Hände verschiedener Hautfarben liegen auf einem Holztisch

„Vielfalt stärkt Gemeinschaften“

Auf der anderen Seite steht eine ganz andere Perspektive. Diese sieht es als Stärke an, Teil einer globalen und vernetzten Welt zu sein. Politische und wirtschaftliche Stabilität wird durch internationale Organisationen und ein gemeinsames Verständnis einer regelbasierten internationalen Ordnung aufrechterhalten. Migration wird oft als Stärke gesehen. Es ist Freiheit, sich bewegen zu können, wohin man will. Vielfalt stärkt Gemeinschaften. Weltoffen leben ist aufregend. Man kann sich „überall“ zu Hause fühlen. 

Ich glaube nicht, dass sich diese Tendenzen zu „Somewhere“-Identitäten und „Anywhere“-Identitäten im britischen Leben seit dem Brexit-Referendum wesentlich verändert haben. Das ist im kirchlichen Leben nicht ganz einfach. Pfarrerinnen und Pfarrer als Menschen, die oft umziehen und die ein gewisses Bildungsniveau erreicht haben, neigen dazu, „Anywhere“-Menschen zu sein. Diejenigen, die die Ortsgemeinden zu Synoden entsenden, sind vielleicht auch solche, die sich mehr für die Welt jenseits des Lokalen interessieren. Vielleicht tendieren auch sie dazu, „Anywhere“-Menschen zu sein. Viele Gemeindemitglieder sind viel mehr mit dem lokalen Ort verbunden und neigen dazu, „Somewhere“-Menschen zu sein. Trotzdem hat sich die Einstellung zum Brexit deutlich verändert. Heute glauben etwa 60 Prozent der Menschen in Großbritannien, dass der Brexit ein Fehler war. Keine politische Partei ist noch in der Lage, das Wagnis vorzuschlagen, die Politik umzukehren. Die Europäische Union könnte gut daran tun, dem Wiedereintritt Großbritanniens skeptisch gegenüberzustehen, bis es eine sehr starke, einheitliche Meinung in den meisten großen politischen Parteien und in der Bevölkerung als Ganzes gibt. Ich denke, die Menschen haben erkannt, dass sie von vielen Politikerinnen und Politikern belogen wurden. All dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Identität vieler Menschen fest vor Ort verwurzelt ist. Auf den Ort kommt es an. Sie sind „Somewhere“-Menschen, nicht „Anywhere“-Menschen. 

Die Ortsfrage

Auch die Leuenberger Konkordie interessiert sich sehr für Ortsfragen. Es ist nicht sofort offensichtlich, aber die grundlegenden Spaltungen zwischen der reformierten und der lutherischen theologischen Tradition, die in der Leuenberger Erklärung überwunden wurden, betreffen Ortsfragen. Um es ganz einfach auszudrücken: An welchem Ort befindet sich der Leib Christi, der Leib dessen, der ganz Mensch und ganz Gott ist? Für die Reformierten bedeutet die volle Menschheit Jesu, dass sein auferstandener und aufgestiegener ganzer menschlicher Leib zur Rechten des Vaters sitzt. Er steht daher nicht im wahrsten Sinne des Wortes auf jedem Altar oder Abendmahlstisch. Vielmehr erhebt der Heilige Geist für Calvin den Christen und die Christin in den Himmel, um sich am auferstandenen und aufgefahrenen Leib Christi zu erfreuen, der zur Rechten des Vaters sitzt. Für die lutherische Tradition wurde die Untrennbarkeit von Gottheit und Menschheit so verstanden, dass Christus, ganz Mensch und ganz Gott, bei jeder Feier des Abendmahls leiblich an jedem Ort präsent ist. Hinter unseren Meinungsverschiedenheiten über das Abendmahl verbirgt sich eine Differenz in unserem Verständnis des Ortes. Ist der Leib Jesu in erster Linie als menschlich an einem Ort oder als göttlich an allen Orten präsent?

Es gibt eine Spannung, die sich durch den ganzen christlichen Glauben zieht: die Spannung zwischen dem Universellen und dem Partikularen. Unser christlicher Glaube erhebt universelle Ansprüche auf Schöpfung und Heil. Wenn der heilige Paulus an die Galater schreibt, macht er klar, dass die soziale Identität zweitrangig ist und durch unsere primäre Identität als diejenigen, die auf den Leib Christi getauft sind, relativiert wird. „Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus“ (Gal 3,28 Zürcher Bibel). Geschlecht, kulturelle Identität, religiöse Identität, nationale Identität – all das ist zweitrangig. Doch gleichzeitig ist unser Glaube ein inkarnierter Glaube. Gott wurde Mensch an einem Ort und zu einer Zeit, in der einen Person von Jesus von Nazareth, einem palästinensischen Juden im ersten Jahrhundert. Die frühesten Kirchen wurden an bestimmten Orten gegründet, in Korinth, Rom, Ephesus und Philippi. Die Briefe des Neuen Testaments sind in gewisser Weise Briefe darüber, wie verschiedene menschliche Identitäten in der neuen Gemeinschaft, die die Kirche ist, eins werden sollen. Was sie offenbaren, ist, dass die Kirche dies immer auf gebrochene Weise manifestiert hat. 

Leuenberger Konkordie 1973 - Am 16. März 1973 verabschiedeten lutherische, reformierte und unierte Theologen im schweizerischen Leuenberg einstimmig ein Dokument, das die nahezu fünf Jahrhunderte lange Spaltung zwischen den reformatorischen Konfessionen beenden sollte.

„Gemeinsames Verständnis des Evangeliums“

Wenn wir uns versammeln, um das 50. Jubiläum der Leuenberger Konkordie zu feiern, denke ich, dass wir davon lernen können, wie diese theologischen Spaltungen über den „Ort“ überwunden wurden. In der Leuenberger Konkordie werden die Verwerfungen aus der Reformationszeit nicht zuerst behandelt. Was zuerst kommt, ist unser gemeinsames Verständnis des Evangeliums. „Das Evangelium ist die Botschaft von Jesus Christus, dem Heil der Welt, in Erfüllung der an das Volk des Alten Bundes ergangenen Verheißung“ (LK 7). Die Spaltung wird in erster Linie durch die Aussage des Gemeinsamen überwunden, nicht durch das, was uns trennt. 

Was ich sehr interessant finde, ist die Art und Weise, wie die historischen Spaltungen in der Leuenberger Konkordie behandelt werden. Über die Christologie, die ursprünglich in erster Linie eine Debatte über den Ort war, den Ort des auferstandenen und aufgefahrenen Leibes Jesu, heißt es in der Erklärung, dass wir „... neu zur Geltung zu bringen, was die reformierte Tradition in ihrem besonderen Interesse an der Unversehrtheit von Gottheit und Menschheit Jesu und was die lutherische Tradition in ihrem besonderen Interesse an seiner völligen Personeinheit geleitet hat“ (LK 22). Was die Konkordie tut, ist, die alte Spaltung aus der Perspektive dessen zu betrachten, was jede Tradition positiv zu schützen versuchte. Für die Reformierten die Fülle der Gottheit und Menschheit Christi, für die Lutherischen die Untrennbarkeit der Gottheit und Menschheit Christi. Beide Traditionen streben danach, eine vollständig Chalzedonische Christologie aufrechtzuerhalten. Wenn die Fülle der Menschheit Christi nicht geschützt wird, steht das Heil in Gefahr, denn was nicht angenommen wurde, kann nicht erlöst werden. Wenn die Einheit der Gottheit und Menschheit in der Natur Christi nicht aufrechterhalten wird, dann steht wiederum das Heil in Gefahr, weil das, was nicht angenommen wurde, nicht erlöst werden kann. 

Und so kommt es, dass die Leuenberger Konkordie das gemeinsame positive Bekenntnis ablegen kann: „Im Abendmahl schenkt sich der auferstandene Jesus Christus in seinem für alle dahingegebenen Leib und Blut durch sein verheißendes Wort mit Brot und Wein“ (LK 18).

Auf einem Tisch liegt ein Laib Brot. Daneben steht ein silberner Kelch.

„Zusammenleben in Gemeinschaft“

Die Leuenberger Methode besteht in gewisser Weise darin, das Positive zu behaupten, was der historische Gegner zu schützen versucht. Wenn man die Verschiedenheit auf diese Weise versteht, wird ein neues Zusammenleben in Gemeinschaft möglich. Die Reformierten versuchen nicht, der Realpräsenz Christi im Abendmahl zu widersprechen, sondern die volle Gottheit und Menschheit Christi zu schützen. Die Lutheranerinnen und Lutheraner versuchen nicht, der vollen Menschheit Christi zu widersprechen, sondern Gottheit und Menschheit untrennbar vereint zu halten. 

Im Kontext eines politisch gespaltenen Europas, in dem sowohl die Nationen und Regionen als auch die Einzelnen in „Somewhere“-Menschen und „Anywhere“-Menschen gespalten erscheinen, frage ich mich, was dieser Leuenberger Ansatz zu bieten haben könnte? Was könnte das christliche Evangelium im Kontext eines immer größer werdenden Gefühls eines „Kulturkriegs“ zu sagen haben?

Ich bin ein „Anywhere“-Mensch. Ich trauere um den Verlust meiner EU-Bürgerschaft und bin der Meinung, dass das Vereinigte Königreich mit dem Austritt aus der Europäischen Union einen großen Fehler gemacht hat. Die Brexit-Debatten haben mir vor Augen geführt, wie begrenzt meine Welt in mancher Hinsicht ist. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis fiel mir auf, dass fast keine und keiner von ihnen den Brexit unterstützte. Das war ein Weckruf für mich. Wie kommt es, dass ich nur eine Gruppe von Menschen in meinem Land kenne? Es kann durch meine Ausbildung, die Orte, an denen ich gelebt habe, und die Rollen, die ich im Leben der Kirche übernommen habe, erklärt werden. Es ist jedoch sicherlich nicht positiv. Wie lerne ich als jemand mit internationaler Perspektive, der im Ausland gelebt hat, der viel reist und die positiven Vorzüge einer multikulturellen Gesellschaft genießt, Menschen mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen kennen und verstehen? Ich hatte großes Glück, ich habe einen Großteil meines Lebens in Cambridge und London verbracht; zwei Städte mit einem globalen Horizont. Aber in solchen Städten kennt man nicht viele „Somewhere“-Menschen.  

Was passiert, wenn ich die Leuenberg-Prinzipien anwende, um diejenigen zu verstehen, die eine ganz andere Perspektive und Erfahrung haben als ich? Vielleicht muss ich mir ansehen, was die Menschen zu schützen versuchen, und vieles davon hat mit einem Sinn für die Bedeutung lokaler Gemeinschaften und lokaler menschlicher Beziehungen zu tun. Es gibt viele Orte in Großbritannien, an denen die Menschen erleben, dass ihre Kinder und Enkelkinder – wenn sie Arbeit finden wollen – an einen ganz anderen Ort wegziehen müssen. Die Leute haben die Konsequenzen der Globalisierung gesehen, dass Arbeitsplätze von ihren lokalen Gemeinschaften in andere Teile der Welt verlagert wurden. In einem Glauben, in dessen Mitte die Inkarnation steht, in dem wir glauben, dass Gott sowohl im Besonderen als auch im Globalen gegenwärtig ist, ist es sicherlich nicht falsch, die lokalen Gemeinschaften, ihre Traditionen und Kulturen schützen zu wollen. Es gibt etwas Positives im Herzen dessen, was die „Somewhere“-Menschen zu schützen versuchen. Wenn ich das anerkenne und bereit bin, auf das zu hören, was die Menschen wirklich zu sagen versuchen, gibt es vielleicht eine Chance für die Heilung von Spaltungen. Vielleicht ermöglicht das den „Somewhere“-Menschen, diesem „Anywhere“-Mann zuzuhören, der letzte Woche in Rumänien war und diese Woche in Deutschland ist und zu hören, dass das, was ich schützen möchte, der europäische Frieden, der wirtschaftliche Wohlstand und die individuellen Menschenrechte sind. 

„Das Universale und das Partikulare zusammenhalten“

Im Kontext unseres Glaubens, der immer versucht, das Universale und das Partikulare zusammenzuhalten, liegt vielleicht etwas Wichtiges, das wir in unseren gespaltenen politischen Zeiten zu verkündigen haben. Vielleicht hilft uns die Leuenberger Methode, das Gute und das, womit wir einverstanden sind, in einer Position zu finden, die auf den ersten Blick unvereinbar erscheint. Wenn wir das tun, entstehen vielleicht neue Formen versöhnter Gemeinschaft.

Die Leuenberger Konkordie liest sich in erster Linie als theologischer Text. Es ist auch ein Text, der aus einem bestimmten Kontext heraus entstanden ist. Europa war schon immer ein Kontinent der wechselnden Grenzen. Ich vermute, dass wir das in Großbritannien als Insel zu leicht vergessen. Die Folgen der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts hatten einen enormen Einfluss auf die politische Landkarte Europas. Mit dem Vertrag von Trianon am Ende des Ersten Weltkriegs verschwand Österreich-Ungarn und viele Leute wachten in einem anderen Land auf als dem, in dem sie zu Bett gegangen waren. Am Ende des Zweiten Weltkriegs kam es zu einer der größten Migrationsbewegungen, die es je gab, da die Leute über einen Kontinent vertrieben wurden, der zerstört worden war. Die Schrecken dieser Erfahrung sind meiner Meinung nach zu wenig bekannt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die ethnischen und sprachlichen Bevölkerungen Europas radikal durcheinandergeraten. Dies führte natürlich zu einer neuen Konstellation religiöser Traditionen. Kirchen unterschiedlicher Konfessionen und verschiedener Sprachen leben als unmittelbare Nachbarn. In Hermannstadt – Sibiu auf Rumänisch und Nagyszeben auf Ungarisch, wo der Rat der GEKE letzte Woche tagte, zeigt sich dies sehr deutlich. Evangelische des Augsburger Bekenntnisses (also Lutheranerinnen und Lutheraner), Reformierte und Methodistinnen und Methodisten, in verschiedenen Kirchen, feiern Gottesdienste auf Deutsch, Rumänisch und Ungarisch. Sie verstehen sich als unsere Mitgliedskirchen in Rumänien und nicht als rumänische Mitgliedskirchen. 

Im besten Fall hat die Leuenberger Konkordie zu einer Gemeinschaft geführt, die das Universelle und das Partikulare wirklich zusammenhält. Sie bringt uns in volle Gemeinschaft und lässt gleichzeitig unsere historischen, sprachlichen und kulturellen Besonderheiten zu. Sie ermöglicht es uns, gemeinsam Kirche für den europäischen Kontinent zu sein und gleichzeitig Völker mit spezifischen Geschichten, Kulturen und Sprachen mit dem gemeinsamen Evangelium in Kontakt zu bringen. Das ist nicht einfach. Manchmal machen wir das gut. Zu anderen Zeiten ist es schwierig und wir kämpfen. Die ethnischen und kulturellen Unterschiede sind tief. Das christliche Evangelium verlangt von uns, dass wir unsere Schwestern und Brüder in Christus in erster Linie als Teil des einen Leibes sehen und nur in zweiter Linie als Menschen mit einer bestimmten ethnischen oder nationalen Identität. Das wird nie eine leichte Aufgabe sein. Das ist die Aufgabe der GEKE jetzt und in Zukunft.

Eine steinerne Brücke spannt sich über einen Fluss. Die Ufer sind mit Gras und Bäumen bewachsen. Im Fluss spiegelt sich die Brücke.

„Trennende Unterschiede überwinden, ohne die Unterschiede aufzuheben“

Die Leuenberger Konkordie ist in hohem Maße ein theologischer, lehrmäßiger Text. Sie versucht, die trennenden Unterschiede in der Lehre zwischen unseren Traditionen zu überwinden, ohne die Unterschiede dabei aufzuheben. Was sie hervorgebracht hat, ist jedoch nicht nur theologischer oder doktrinärer Art. Es ist eine lebendige Gemeinschaft in Gottesdienst, Zeugnis und Dienst. Diese Gemeinschaft weiterzuleben und zu vertiefen, ist unsere Berufung. Diese Aufgabe ist zum Teil theologischer Art. Aber es geht auch darum, unsere Gemeinschaft in unserem gemeinsamen Leben in Gottesdienst, Zeugnis und Dienst zu vertiefen. Das, was uns heute trennen könnte, sind nicht mehr die Lehren der Christologie oder der Sakramente, sondern viel eher ethische Fragen. Fragen von Geschlecht und Sexualität, des Verständnisses und der Praxis von Demokratie oder der Beziehungen zwischen Kirche und Staat sind die großen und schwierigen Fragen unserer Zeit. Unsere Berufung ist es, den Leuenberger Umgang mit unseren Unterschieden zu leben. Wie suchen wir nach dem positiven Guten, das die Person, mit der wir nicht einverstanden sind, zu schützen versucht? Wie finden wir die gemeinsamen Werte, die den scheinbar widersprüchlichen Positionen zugrunde liegen? In der Gemeinschaft der GEKE sind wir gemeinsam Kirche. Gott hat uns durch das Wirken des Heiligen Geistes zu einem Leib getauft. Wir sind Schwestern und Brüder, auch mit jenen Kirchen und einzelnen Christinnen und Christen, mit denen wir zutiefst nicht einverstanden sind, ob wir wollen oder nicht. Wenn wir diese Wirklichkeit als Gemeinschaft versöhnter Verschiedenheit leben, werden wir zu einer kraftvollen Zeugin für ein Europa und eine Welt, die von Kulturkriegen bedroht sind. Wenn wir das Evangelium, das wir gemeinsam teilen, klar verkünden und in den Bereichen, in denen wir unterschiedlicher Meinung sind, uns darauf einlassen, dann werden wir zu einem hoffnungsvollen Zeichen in einer zerbrochenen Welt.

Nach 50 Jahren ist die Leuenberger Konkordie ein großes Zeichen der Hoffnung. Hoffnung, dass langjährige Spaltungen geheilt werden können. Die Hoffnung, dass Einheit in versöhnter Verschiedenheit möglich ist, sowohl in den theologischen Texten als auch in einer gelebten Gemeinschaft. Die Hoffnung, dass es eine Art des Zusammenlebens gibt, die Leben und Freude bringt, nicht Krieg und Tod.

Gegenwärtig braucht unser Kontinent diese Hoffnung und eine Vision des Guten, das möglich ist. Das Aufkommen des populistischen Nationalismus, der einfache Lügen als Antwort auf komplexe Fragen anbietet, ist eine reale und gegenwärtige Gefahr. Der Brexit ist vielleicht ein sehr reales Beispiel dieser Gefahr. Ein weitaus extremeres und tödlicheres Beispiel könnte der Nationalismus und Imperialismus sein, der hinter dem Krieg in der Ukraine steckt. Als Gemeinschaft, die die Kirchen sowohl in der Ukraine als auch in Russland zusammenhält, sind wir vielleicht ein Zeichen für eine andere Art des Zusammenlebens.

Nach 50 Jahren Leuenberger Konkordie gibt es viel zu feiern. Es gibt auch vieles, wofür ich Ihnen allen danken muss. Die deutschen Kirchen und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) spielen eine besondere wichtige Rolle im Leben unserer Gemeinschaft. Viele eurer Kirchen haben schon lange vor der Leuenberger Konkordie ein konfessionsverbindendes Zusammenleben geführt und die Möglichkeit und den Nutzen versöhnter Verschiedenheit aufgezeigt. Das komplexe Netzwerk deutschsprachiger Kirchen in ganz Mittel- und Osteuropa, oft kleine Minderheiten, die als Diasporagemeinschaften leben, ist ein wichtiger Teil des Lebens der Gemeinschaft. Eng verbunden sowohl mit dem kirchlichen Leben hier in Deutschland als auch mit Kirchen anderer Sprachtraditionen an ihren jeweiligen Orten, sind sie wichtige Elemente innerhalb der Gemeinschaft und sind von der EKD und den Landeskirchen oft stark unterstützt. Es ist eine grundlegende finanzielle Realität, dass es die Großherzigkeit der EKD und der Landeskirchen ist, die das Leben unserer Gemeinschaft unterstützt. Die Art und Weise, wie die Großherzigkeit in einer Weise angeboten wird, die darauf abzielt, das Leben der ganzen Gemeinschaft zu ermöglichen, anstatt die Gemeinschaft zu kontrollieren, ist ein wunderbares Geschenk an uns. Vielen Dank. 

Spaltungen können geheilt werden“

Wir leben auf einem Kontinent, der von sozialer und politischer Spaltung bedroht ist. Wenn wir das Gute finden, das diejenigen, mit denen wir nicht einverstanden sind, zu schützen suchen, werden wir feststellen, dass Spaltungen geheilt werden können. Wenn wir im Evangelium Christi leben, sind wir gemeinsam Kirche und ein Zeichen der Hoffnung, dass versöhnte Verschiedenheit möglich ist. Im Mittelpunkt unseres Glaubens steht die Realität, dass die universellen Werte, die die „Anywhere“-Menschen suchen, nicht mit der lokalen Vielfalt und den besonderen Lebensweisen in Konflikt geraten müssen, die die „Somewhere“-Menschen schützen. Versöhnte Vielfalt ist in der Kraft des Heiligen Geistes möglich, wenn wir auf den Ruf Christi antworten, gemeinsam Kirche zu sein. Wenn wir diesem Ruf folgen, werden wir in einer gespaltenen Welt ein Zeichen der Hoffnung des Evangeliums. Amen.