Wer bin ich im Gottesdienst?

Liturgisches Selbstverständnis in widerstreitenden Erwartungen

Ein persönlicher Rückblick auf das 26. Liturgiewissenschaftliche Fachgespräch von Daniel Walther

Das diesjährige Liturgiewissenschaftliche Fachgespräch vom 11.-13. März 2024 lockte mit einem nahezu unermesslichen Thema: "Wer bin (ist) ICH im Gottesdienst?" Dazu kamen Wissenschaftler:innen und Praktizierende aus Theologie, Literatur, Musik und Theater zusammen. Die Teilnehmer:innen näherten sich der Spur des „Kleinen Ich bin Ich“ mit unterschiedlichsten Haltungen, Fragestellungen und Medien – von Bleistift bis Hightech. Wird hier schon etwas sichtbar?  

Liturgische Rollenverständnisse changieren in der Figur des Liturgen vom religiösen Symbol über Stellvertretung, parochiales Amt, mimetisches Vorbild bis hin zum Content-Creator.

Der Schriftsteller Sebastian Kleinschmidt führte uns in einen differenzierten Begriff von Autorität ein, der mit Blick auf seine antike Wurzel (auctoritas) das Ansehen der Person auf Würde aufbaut und nicht auf physische Machtmittel. Eine seiner starken Thesen bleibt mir im Gedächtnis „Der Liturg sollte nicht Repräsentant seiner Kirche sein, sondern ein Einzelner, der eine eigenständige urhermeneutische Praxis der Aneignung von Bibeltext wagen muss.“

Christian Grethlein plädierte für eine weniger elitäre Anschauung und eine Besinnung auf Ursprungsformen des Christentums, die nicht auf strengen kultischen Formen beruhten, denn sie waren „Feiern authentischer Kommunikation“.

Mit Christian Lehnert suchten wir in der Literatur. Wie kann ein Wir entstehen, wenn der heutige Gottesdienst nur nach dem Gelingen beurteilt wird, das auf höchst subjektiven Erfahrungen beruht? Michael Meyer-Blanck beschrieb das komplexe „liturgische Ich“, das auf Rollenperformativitäten beruht, die durch Repräsentation, Biografie, Amt, Spiritualität, Dramaturgie und dialektischen Kritik spannungsvoll aufeinander bezogen sind und sich nicht aufeinander reduzieren lassen. Ralph Kunz befasste sich mit Charisma, das immer der Gefahr des Missbrauchs unterliegt, aber auch eine versammelnde Kraft entfalten kann. Uwe Steinmetz entführte uns in die Musiktheorie und zeigte, wie Musik dazu in der Lage ist, liturgische Räume zu erzeugen. Eine jüdische Stimme auf der Tagung, Zsolt Balla, der sächsische Landesrabbiner, sprach sich dafür aus, dass es in der Liturgie nicht vorrangig um Selbstverwirklichung eines liturgischen Ichs, sondern darum geht, der Gemeinde das gemeinsame Gebet zu ermöglichen. Eine katholische Response erhielten wir von Martin Stuflesser mit einer Anregung für eine theologische Professionalität des Amtes. „Eine gute Theologie ist schon die halbe rituelle Praxis.“ Der Liturg ist Diener der versammelten Gemeinde, den Glauben kann er nicht machen, sondern nur anbieten in der Form: „Komm und sieh“.

Ein Highlight der Tagung war der hochspannende Direktvergleich experimenteller Formen des Theaters (Rimini-Protokoll) und geistlicher Formate in Fernsehen und social media durch Johanna Haberer und Veronika Darian. Beide Welten eint die Vergegenwärtigung des Abwesenden durch Repräsentation und Stellvertretung.

Dabei wanderten wir auf einem schmalen Grat zwischen Inszenierung, Authentizität, Verzweiflung und Integrität. Zuletzt befassten wir uns mit dem Potential des Altars als Agency im Gottesdienst. Katharina Krause verdeutlichte diese hochanregende Perspektivänderung auf ein Ich, das in Aktion entsteht mit ethnografischen Studien zu Gottesdiensten mit Menschen mit Demenz. Den Abschluss bildete Konstanze Kemnitzer mit einem differenzierten Bick auf Haltung in der Liturgie, den sie mit einer Theorie der „Imagination des Evangeliums“ entfaltete.

Drei Tage intensive Auseinandersetzung bei fabelhafter und gehaltvoller Moderation. Was bleibt? Zerfallen Rollen, wird das Ich unsicher (ver-zweifelt gar) und gerät unter den Druck sich möglichst authentisch selbst setzen zu müssen. Doch weder gibt es ein unschuldiges Ich noch eine „unschuldige Zitation“ in der Liturgie. Was die Welt im Innersten zusammenhält? Das Ich ist es jedenfalls nicht.