Interviews & Vorträge

„Christlicher Frieden kann niemals mit Mitteln der Gewalt verwirklicht werden“
Interview mit Dr. theol. h. c. Christian Lehnert, Schriftsteller und wissenschaftlicher Geschäftsführer im Liturgiewissenschaftlichen Institut der VELKD bei der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig - Mittwoch, 8. Februar 2023

Sie haben sich mit Krieg und Frieden schon früh auseinandergesetzt, waren zu DDR-Zeiten Bausoldat, weil Sie den Dienst an der Waffe verweigert haben. Gibt es etwas, was Sie in den vergangenen zwölf Monaten noch über Krieg und Frieden gelernt haben?
Ich erinnere mich, wie ich als Bausoldat, gerade neunzehn Jahre alt und von der schweren Arbeit und den dauernden seelischen Gewalterfahrungen zermürbt, in einer Zelle saß, weil ich einen Offizier nicht ordnungsgemäß gegrüßt hatte. Die Stahltür wurde verschlossen, der Raum war kahl, schallisoliert, fensterlos. Ich ließ die Fingernägel über das Metall schürfen, lauschte den feinen Schwingungen, ein Echolot in die Angst, in die Fragen: „Warum machst du das? Warum dienst du nicht einfach mit der Waffe in der NVA?“ Damals war die innere Antwort haltbar: „Du sollst nicht töten. Dieser Anspruch ist absolut.“ Immerhin gab es eine innerdeutsche Grenze, an der geschossen wurde. 
Heute sehe ich, wie ein ethischer Anspruch in die Ambivalenz von unterschiedlichen Entscheidungen führen kann. Sollen Waffen in die Ukraine geliefert werden? Aus christlicher Perspektive ist es kaum möglich, Frieden anderen Werten unterzuordnen, ob sie nun „nationale Integrität“ oder „demokratische Grundordnung“ oder „geopolitische Interessen“ heißen. Allerdings kann Frieden eine begrenzte, sehr begrenzte Gewaltanwendung erfordern, mit dem einzigen Ziel, Menschenleben zu retten. Das Recht zur Gewaltanwendung verliert sich meines Erachtens aus christlicher Sicht dann, sobald irgendwelche Gespräche möglich werden, die zu einem Ende der Gewalthandlungen führen können. Dies in der konkreten Situation zu bestimmen, ist schwer geworden – und das empfinde ich als Differenz zur Situation in der späten DDR.

Frieden wollen eigentlich alle Menschen. Was ist das Besondere eines christlich verstandenen Friedens?
Der christliche Frieden hat eine Dimension, die „nicht von dieser Welt“ ist. Frieden, der biblische Shalom, ist mehr als menschliche Horizonte, Interessen und Vorstellungen fassen. Es geht um eine Heilung, der ein Rekurs auf „Stärke“ und „Sieg“ grundsätzlich fremd ist. Anderes ist wesentlich: die Gegenwart Gottes, die sich in bedingungsloser Liebe und im Mitleid und in der Vergebungsbereitschaft verwirklicht. „Frieden“ ist, so gesehen, mehr als alles, was wir uns unter Frieden erdenken. Gemeint ist ein Frieden, der Mensch, die Natur, die Gottheit und uns selbst gleichermaßen heilend durchdringt. Niemals kann er mit den Mitteln der Gewalt verwirklicht werden. 

Wie kann man sich als Christ zum russischen Krieg gegen die Ukraine äußern, ohne gleich politisch eingeordnet zu werden?
Jeder Christ, der sich zum russischen Krieg gegen die Ukraine äußert, nimmt eine politische Position ein, die sich benennen und einordnen lässt. Glaube und Politik sind nicht zu trennen. Aber sie sind doch zu unterscheiden:  Aus einem verbindenden Glauben können verschiedene politische Anschauungen erwachsen. Über diese lässt sich streiten – mit politischen Argumenten und mit dem Ziel, zu klugen und besonnenen Antworten zu finden. Unsere Gesellschaft tendiert leider immer mehr zu Polarisierungen, zu einer Kultur des „Dagegen“, zur moralischen Ächtung Andersdenkender. Christen aber stehen für andere ein. Sie pflegen das Gespräch, auch wo es schwer ist. Sie öffnen sich dem, der anders ist. 

Was können Gottesdienste und andere liturgische Formen zum Frieden beitragen?
Gottesdienste können den Frieden feiern – einen Frieden, der weiter ist als unser Blick. Das ist wichtiger als jede (naturgemäß umstrittene) politische Botschaft von der Kanzel. „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde …“ Diese feiernd zu ersehnen, betend zu erträumen, ist eine zentrale liturgische Aufgabe. Gottesdienste können, wenn sie gelingen, zu einem Ort des ganz Anderen werden, und von dorther kommen Lebenskräfte, kommen Vertrauen und Trost und neue Kräfte, die in die große Unbekannte, die Zukunft reichen. Frieden gibt es nur dort, wo Menschen sich selbst transzendieren können.
(Interview: Frank Hofmann, Pressesprecher)

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